Wenn Blicke Leben schenken könnten

Martin A. Völker für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“




Wenn Blicke Leben schenken könnten

Lasse im städtischen Trubel einmal deinen Blick frei schweifen, als hättest du einen vagabundierenden Blick. Das wird dir schwerfallen, vielleicht wirst du sogar diesem Handlungsvorschlag nicht folgen können, weil er dir unverständlich und geradezu absurd vorkommt. Dein Blick in der Stadt ist nämlich begrenzt, die Wege von A nach B verlangen deine volle Aufmerksamkeit, eingelassen bist du in alles um dich herum, weshalb dich der dann und wann aufblitzende Gedanke an ein Loslassen erschreckt und dich sofort an den Freeclimber an der Bergwand erinnert, der jede nicht auf den Auf- und Abstieg abgestimmte Bewegung der Beine, Arme, Fingerspitzen und Augenlider mit dem Tod bezahlt. Deine Verbindung mit allem ist überlebenswichtig. Abkehr wäre Selbstmord. Wie sonst lassen sich die starren Blicke auf die Bildschirme der Smartphones in der U-Bahn erklären? Stärker als das Leben in der Stadt bindet das noch viel reichere Leben im Gerät deine Blicke und Gefühle bei eingeschränkter bis absolut reduzierter Bewegung. Früher hieß es im Film: „Bei Anruf Mord“. Heute wird einer, wenn er keinen Anruf bekommt, oder das Ding nicht in Händen hält, das einen Anruf ermöglicht, zum Mörder, zumindest zum Mörder seiner guten Laune, des inneren Friedens und der Gelassenheit, die uns das wahrnehmen lässt, was die Unruhe übergeht. Der Thriller „Nicht auflegen!“, in dem Stuart in einer Telefonzelle einen Anruf entgegennimmt und nicht auflegen darf, weil er sonst erschossen wird, ist uns zur Realität und täglichen Schreckensroutine geworden. Das erinnert mich an meinen Mathelehrer, der seine Schüler:innen nur an den Hinterköpfen erkennen konnte, weil ihre Gesichter und Blicke sich sofort absenkten, sobald er den Raum betrat oder, was viel schlimmer war, eine Frage stellte, eine Frage wie eine Bombe in den Raum warf. Fremde Blicke können töten. Der eigene unabgewandte Blick tut es ebenso. Du kannst das innere Sterben beenden, indem du lernst, deinen Blick zu befreien, deinen Blick beweglich und weit zu machen. Kennst du den Maler Caspar David Friedrich und das Gemälde „Der Mönch am Meer“? Riskiere einen Blick. Aber Vorsicht, er wird dich in deinen Grundfesten erschüttern. Was du erblicken wirst? Nichts. Einfach nichts. In das große Nichts schaust du. Aber gedulde dich ein wenig. Denn aus dem großen Nichts werden deine Blicke ein kleines Etwas machen, das immer größer und vielförmiger wird: Nebel- und Wolkenformationen, die zahllose Figuren bilden und, zunächst kaum merkliche, Farbspiele auslösen. Eigentlich ist es deine Fantasie, die dort etwas sieht, wo vorher nichts war. Du wirst dich selbst in den Nebel- und Wolkengestalten erkennen. In Wahrheit bist du das Schauspiel, und du wirst keine anderen Schauspiele mehr akzeptieren, die dich oder das gewaltige Universum verkleinern. Erhebe deinen Blick, stehe aufrecht, atme ein und blase in die Nebel und Wolken hinein, lasse dich von der Natur berühren. Alles entsteht aus dem Nichts, das du vorher selbst warst. Es ist kein Mönch, der dort am Meer vor den Nebeln steht. Dort wird ein Mönch stehen, ein Mensch, der beglückende Verbindungen eingehen kann, weil er niederhaltende Verbindungen im Sinne von Fesselungen zu lösen imstande war; ein Mensch, dessen Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Gefühlsfähigkeiten ins Unermessliche wachsen. Begnüge dich jedoch nicht mit Gemälden. Löse deinen Blick von Bild und Bildschirm, von Buch und Schrift, damit du wieder sehen kannst, gesehen wirst, als wärest du ausersehen. Wie du in die Welt hineinblickst, so schaut die Welt zurück. Was das heißt? Probiere es aus. Wähle den Ausgang aus der selbstverschuldeten sehenden Blindheit.



Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
Interview mit Martin A. Völker HIER






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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