Michael Zagorec für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
Die Zikaden
Die Uhr tickt an der Wand, als sich die Charaktere der Stadt die Köpfe einschlagen. Ich döse inmitten des Tumults und wenn wir von einem Tumult sprechen, dann ist es die Welt, die nach jeder kleinen Umdrehung am profanen Drang nach Besserung und Zustimmung hängt… Herrlich, diese Verdrehungen in der Atmosphäre, dieses logistisch aufbereitete Wissen über Wahrheit und Unwirklichkeit, das uns stets begleitet… .
„Hast du dich mit der Relativitätstheorie beschäftigt“, fragt sie mich und ich blicke aus dem Fenster.
„Nicht wirklich, aber ich weiß ungefähr, wovon sie handelt…“, antworte ich.
Sie springt aus dem Bett und fuchtelt willkürlich mit den Armen umher. Sie tanzt mir schon fast einen Ausdruckstanz vor, als gäbe es keinen Raum und keine Zeit.
Das Klopfen des korrupten Windes, der sich ohnehin seit Jahrzehnten schon an die Wirtschaft verkauft hat, zerrt mich in die Realität zurück. Alles muss optimiert werden, mehr, mehr, mehr und immer mehr… Sich dem Nichtwissen zu untergeben und der gesunden Möglichkeit, Gleichgültigkeit nur für einen Moment auszuüben, bleibt ein Traum in den unendlichen Weiten des Kosmos. Also stehe ich auf, mache uns Kaffee, während ich mich mit den physikalischen Gegebenheiten des Kummers im Menschen auseinandersetzte und denke an die Gräueltaten, die sich in den Neunzigerjahren ereigneten.
…
Mein Vater kam eines Abends zu seiner Schwester, überwältig von dem Grauen unmenschlicher Zustände und fing an zu weinen. Es gab kein Entkommen, nur die Hoffnung auf Besserung, die der Fernseher mit Stolz zunichtemachte. Nach vier Tagen musste er zurück in die Schützengräben und die singenden Spatzen verlassen, die sich in den entlegenen Orten unbekümmert vermehrten. Ein Schuss, und weg waren sie…
…
„Machst du dir keine Gedanken über die Unwichtigkeit unseres Daseins?“, fragt sie mich in der Küche und ich muss lächeln. Der Kaffee in der Espressokanne fängt zu brodeln an. Ich vernehme ein leises Herzklopfen, aus dieser oder auch aus einer anderen Welt….
„Ich und jene, die den Tod sahen, tun es tagtäglich“, antworte ich und gieße den Kaffee in die Tassen.
„Siehst du die Bewegungen der Bäume in deinen Träumen, oder sind sie auch dem Tode geweiht?“, sie lächelt mich an und mein Blick fokussiert einen Fleck auf der Wand.
Sie stellt zu viele Fragen, denke ich mir, Fragen, die sich in die Schädeldecke bohren, dort kleine Eier legen und für eine Ewigkeit Neues erschaffen.
„Die Theorie des Nichtwissens“, flüstere ich leise vor mich hin.
„Welche Theorie soll das sein?“, fragt sie interessiert.
„Das, was wir nicht wissen, soll zu diesem Zeitpunkt, indem wir uns Gedanken darüber machen, vielleicht nicht erklärt werden. Die Akzeptanz, etwas nicht zu wissen, kann dir Ruhe verschaffen und für einen kurzen Moment Frieden in die Welt bringen“, erwidere ich, doch sie findet meine Theorie lächerlich, weil sich der Mensch immer dem Streben nach Wissen unterwirft, auch wenn er vor einer Sackgasse steht.
…
Irgendwo in Dalmatien rauchten Grenzpolizisten ihre Zigaretten und der Wind tobte in schwindelerregender Höhe über ihren Köpfen. Die Schweißtropfen bahnten sich ihren Weg durch die Poren der menschlichen Haut. Es war die Hitze, die ihnen manchmal zu schaffen machte, und in der Nacht spielten sie Karten, rauchten eine ganze Packung, atmeten die Luft ein, als könne es das letzte Mal in ihrem Leben sein und lachten über die Witze der anderen. Die Pistolen waren bereit für den Notfall, in einer Kammer lagen weitere Geschosse. Sie sahen sich an, als aus der Ferne Einschläge zu hören waren, und die strahlenden Gesichter, die sich vor kurzem noch der Stille erfreut hatten, wurden bleich. Was Angst aus einem Menschen macht, weiß die Wissenschaft am besten, denn letztendlich sind wir nur kleine Organismen, zusammengepresst zu einer Hülle aus Fleisch und Blut. Nach einigen Minuten der Stille, während die Grenzpolizisten mit Bereitschaft die Hände auf ihren Pistolengriffen liegen ließen, beruhigte sich die Lage. Ein, zwei Mal in der Nacht kam es vor, dass sie sich mit toternster Miene stumm anstarrten, aber meistens war es kein Angriff. Sie spielten weiter Karten, erzählten sich Witze, rauchten die Zigaretten und irgendwo schliefen die großen Offiziere tief und fest auf bequemen Matratzen. In wenigen Stunden würden sie im Morgengrauen wieder die Zikaden zirpen hören, und sich über den Tag freuen. Der Tag bringt kein Unheil, das wussten sie, es war die Nacht, die dem Schrecken Gestalt verlieh.
…
Durch das gekippte Fenster dringt das Bellen eines Hundes aus dem Nachbarwohnhaus, weit entfernt sind die Autos der Hauptstraße zu hören. Das Leben tobt und wir versuchen ein kleines Quäntchen Glück zu finden, es aus den tiefsten Untergründen herauszuschaufeln, weil doch noch irgendwo Hoffnung auf das Schöne zu spüren ist.
„Die Nachrichten“, sagt sie völlig unverhohlen.
Ich schaue auf den Bildschirm.
„Ich weiß“, antworte ich und trinke aus der Tasse.
„Vielleicht stecken wir alle mal die Finger in eine Steckdose und sehen was passiert. Eine zufällige Selektion, verstehst du?“, und sie lacht, lacht, lacht, lacht und lacht weiter… Die schrillen Töne verlassen die Erde, legen die schwarzen Löcher in entfernten Galaxien still und bringen für einen Moment die Zeit zum Stehen. Niemand bewegt sich, wir stehen nur still und erfreuen uns am Stillstand, an der bitterlichen Erkenntnis, dass wir nur etwas tun, um nicht völlig durchzudrehen.
Als sie zum Lachen aufhört, sagt sie ernst: „Bist du wieder traurig?“
Ich antworte nicht, weil das Offensichtliche nicht mit Worten beschrieben werden muss.
„Sollen wir uns ablenken?“, führt sie fort, steht auf und zieht mich ins Schlafzimmer. Für einen Moment ist der Himmel fluoreszent-blau, die Kirschbäume besänftigen mit ihrer Schönheit und Gnade die ganze Welt und das Heulen der Wölfe bleibt dieses Mal aus.
…
Einmal fuhren wir an einer alten Kaserne vorbei und mein Vater zeigte auf die unzähligen Einschusslöcher auf der Fassade. Er betonte, dass sie über zwanzig Jahre alt seien, aber sich nie jemand wirklich darum kümmern wollte. Vielleicht soll die Erinnerung den Menschen es nicht gestatten, mit der Vergangenheit abzuschließen, aber vielleicht ist es auch der Stolz, diese Tortur überstanden zu haben. Die Offiziere würden in ihren Palästen leben, sagte er, während einige seiner Freunde eine mickrige Invalidenrente bekämen. Jedes Mal nahm sein Gesicht etwas Betrübtes an, wenn er darüber redete. Wir dürfen es nicht vergessen, aber wir müssen uns davon befreien, wir seien doch nur Menschen, die hin und wieder von der Vergangenheit eingeholt werden, sagte er…
…
„Das nenne ich Leben“, sage ich, liege aber nicht im Bett, sondern sitze in der Küche. Vor mir steht die dunkelbraune Tasse, in der noch ein wenig Kaffee übriggeblieben ist. „Wir tragen die Wunden unserer Vorfahren in uns“, sage ich, obwohl ich alleine sitze. Sie ist nicht mehr da, war es vielleicht auch nie. Und ich versuche weiter die physikalischen Gründe der Abhängigkeit des Menschen und seiner Vergangenheit zu finden, beiße mir aber nur auf die Zunge und schaue aus dem Fenster, zum Himmel empor, um die Farbe zu begutachten. Aber es ziehen wieder graue Wolken auf, während die Blätter von den Bäumen herabfallen. Ich frage mich, ob an der Theorie wiederkehrender geschichtlicher Ereignisse etwas dran ist, und werde nicht schlau daraus. Die Akzeptanz des Nichtwissens kommt mir wieder zugute und ich lächle, während ich mich zurücklehne und meinen Kopf gemütlich in den Nacken fallen lasse.
„Herr Doktor, bin ich normal?“, höre ich jemanden sagen.
„Niemand ist es…“, antworte ich leise.
Dann hebe ich meinen Kopf wieder und mein Blick fokussiert die Steckdose vor mir an der Wand. Durch das gekippte Fenster höre ich die Laute zirpender Zikaden, die Kirschbäume blühen und ich schließe meine Augen. Voller Wohlwollen und Eintracht entweicht meinem Gesicht ein Lächeln, und das Land kniet nieder, um sich für einen Moment auszuruhen.

Michael Zagorec wurde am 04.09.1993 in Zell am See, Österreich, geboren. Nach seinem Schulabschluss an einer höheren technischen Lehranstalt fing er als Bautechniker in einem Architekturbüro zu arbeiten an. 2015 begann er mit seinem Studium an der Pädagogischen Hochschule in Salzburg. Heute arbeitet er als Grundschullehrer und lebt in Salzburg. Seit seiner frühen Jugendzeit interessiert er sich für Literatur und Poesie und schreibt regelmäßig Kurzgeschichten, Gedichte und Songtexte.
Publikationen: Anthologie des 6. Bubenreuther Literaturwettbewerbs 2020
Archipel – Zeitschrift für Kunst, Theorie & Literatur
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