Susanne P. Kriska für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
Dienstagabend vielleicht
Dienstagabend vielleicht, das Augustlicht kommandierte Rosagold an die Betonwände, die Birkenblätter hingen von schlaffen Ruten und warfen Pünktchenschatten. Alltäglicher Magnetismus versammelte die Menschen des Viertels am Fuß der steil aufragenden Stirnseite von Punkthaus Nummer zwölf. Die meisten hatten ihr Handy gezogen und fotografierten die riesige Gestalt, die sich in zig Metern Höhe an die Wand krallte und schuftete. Die Leute zoomten das Foto auf und starrten ungläubig auf den grauschwarzen Vogel, der mit seinem Schnabel große Stücke aus dem Beton hackte, Stücke, die wie vulkanische Eruptivmassen in Bögen zu Boden flogen. Zwei Brocken hatten einen Starrer am Kopf getroffen, er fiel lautlos um und Blut floss sternförmig aus seinen Wunden. Natürlich konnte niemand helfen, weil gerade der Vogel da war und alle schauen mussten.
Es sollte mal jemand die Polizei verständigen, so ein Vogel, das ist doch nicht normal in diesem Land oder was, ließ sich ein karomanischer Arzt mit starkem Akzent vernehmen. Mach’s doch selber, du Spinner, entgegnete ein Mann mit Scheitel und Tattoo hinter dem einen und anderen Ohr und fügte hinzu, Polizei, wozu denn überhaupt, ich war früher Ornithologe und fuck you. Inzwischen war ein zweiter Starrer getroffen worden und die Menge wich langsam zurück, um aus dem Absturzradius der Brocken zu gelangen. Eine Mutter setzte ihrem Kleinkind vorsichtshalber das Mützchen auf. In der dritten Etage des Punkthauses Nummer zwölf schickte sich ein alter Herr an, seufzend seinen letzten Weg zu gehen. Der letzte Atemzug ist immer ein kleiner Seufzer, dachte der karomanische Arzt. Der grauschwarze Vogel war hier nun fertig und flog mit schweren Schwingen in Richtung Ost-Süd-Ost davon.
Ey Alter, da liegen ja zwei Starrer und bluten wie die Sau, rief ein Junge im Stimmbruch. Er trug eine schwarze Jogginghose mit irgendwelchen Streifen, ein weißes T-Shirt mit irgendwelchen Streifen und dazu eine kleine Umhängetasche von links nach rechts, auch mit irgendwelchen Streifen und weiße Sportschuhe… Seine völlig identischen Kumpels neben und hinter ihm zogen gleich ihre Handys und freuten sich gigantisch über ihre geglückten Selfies mit dem sternförmigen Blut. Guter Tag heute, sagte der Stimmbruch und klatschte irgendeinem Kumpel auf die Streifen.
Im Punkthaus Nummer zwölf wurde inzwischen der alte Herr im Fernsehsessel gefunden, der Fernseher lief – weiter – und das Kreuzworträtsel der Apothekenzeitschrift hing hilflos auf seinen Knien. Er hatte mit Bleistift einen großen grauschwarzen Vogel über die Rätselfragen gekritzelt und über die Umrisse hinweg ungeschickt ausgemalt. Oh Mann, sagte seine Tochter, da kann man nix mehr lesen. Jetzt muss ich’s grad wegwerfen. Sie hasste ihn dafür, wenn er wieder mal alles gewusst, alle Kästchen ausgefüllt und ihr kein Rätsel übriggelassen hatte. Oder nur die Frage Hausflur mit drei Buchstaben und das N stand schon drin. Die geblümte Decke auf dem Esstisch ließ die Tischecken frei, die von Maschine gehäkelte Borte löchrig wie der Schädel Starrer Nummer eins. Die fünfzig Prozent Baumwolle, fünfzig Polyester zeigten außer Blümchen noch Kaffeeflecken und Birkenblätterschatten: braune und grauschwarze Tupfen. Das Gesundheitslexikon ohne Eselsohren lag in der Schrankwand mit dem Gesicht nach unten, eine staubige Kerze mit Kreuz stand darauf und wurde dadurch ein wenig erhöht. Nebenan hinter der Stahlbetonwand hörte die Tochter die lauten Nachbarn schimpfen. Sie brüllten Ruhe und meinten den teuren Kläffer mit der eingedrückten Schnauze und dem kupierten Schwanz. Sie ging in die Küche zum Kaffeekochen und Telefonieren. Hallo, hallo, Notruf.
Und unten vor Nummer zwölf zerstreute sich die Menge Richtung Ost-Süd-Ost.
Susanne P. Kriska, 1973 in Jena geboren, seitdem Sinn und Wege suchend, daher unermüdlich unterwegs. Längere Stationen in Tunesien und auf La Réunion, die letzte Dekade in Süddeutschland. Veröffentlichungen (via Schreibwettbewerb) in Anthologien (care&click write and change i. V. mit Knesebeck Verlag, Verlag Roloff, Treffpunkt Schreiben über Buchschmiede.at); früher freie Mitarbeit bei den Badischen Neuesten Nachrichten. Die berufliche Vita ist ebenfalls bunt: Studium, Arbeit hier und da, zurzeit im Bereich Bildung unterwegs. Ankerplätze sind Familie, Sport und Tastatur.
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