Jürgen Artmann für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
Weggehen, um anzukommen
Weggehen, um anzukommen hieß ein deutscher Kinofilm aus den frühen Achtzigerjahren. Eigentlich ein sehr früher Liebesfilm um ein lesbisches Paar, das sich trennt. Für die damalige Zeit ein sehr mutiger Film. Eine der beiden Frauen muss nach der Trennung erstmal wieder zu sich kommen. Damit das gelingt, verreist sie. Sie trennt sich nicht nur emotional, sondern auch physisch.
Der Titel des Films hat mir immer gefallen, immer schon etwas in mir ausgelöst. Die Strategie bei Weggabelungen des Lebens, erst einmal weit weg zu gehen, um danach wieder bei sich selbst ankommen zu können, leuchtet mir sofort ein.
Ich stelle mir etwas Heimeliges vor. Hygge ist in. Draußen ist der kalte Winter. Da, wo ich angekommen bin, ist es angenehm warm, wie unter einer kuscheligen Decke. Vielleicht liege ich auch nicht allein darunter. Hier bin ich zu Hause. Daheim.
Heimat ist mehr als die Summe der Zwerge in meinem Vorgarten, sagt Rutger Emm. Ich hatte nicht mal Gartenzwerge besessen, sie nicht nötig, um mich heimisch zu fühlen. Tatsächlich hat mein Garten – der Garten des Hauses, in dem ich zwölf Jahre lang gewohnt hatte – ein Gefühl von Heimat bei mir ausgelöst. Hier fühlte ich mich wohl, hier gehörte ich hin. Es hatte sich richtig angefühlt. Davor hatte ich dieses Gefühl nie, habe immer nur gewohnt, war aber nicht beheimatet. Nicht bei den drei Wohnungen zuvor, dort habe ich tagsüber nur studiert oder gearbeitet und nachts geschlafen. Nicht im Elternhaus. Dort war es mir zu eng, obwohl es ein großes Haus war, und ich wollte schnell nach dem Abitur dort weg.
Doch in unserem Haus war alles anders: Spielende Kinder im Garten, die ganze Nachbarschaft hatte unseren Garten als Spielplatz auserkoren. Und als Freibad, wenn im Sommer ein großes Planschbecken dort stand. Die alten Freunde aus meinem Verein in der Heimat, in die ich hineingeboren war, kamen einmal im Jahr zum Grillen in unseren Garten. Besuchte ich meine alten Schulfreunde in unserer alten gemeinsamen Heimat, merkte ich, dass ich dort nicht mehr hingehörte, obwohl die Besuche nett waren. Ich teilte nicht mehr viel mit ihnen, vor allem nicht ihre Sorgen.
Beim Sportverein der Randsportart, in der es meine neue dreißigtausend Einwohner zählende Heimatstadt immerhin in die zweite Liga geschafft hatte, schrien sich bei den Heimspielen viertausend Fanatics den Hals heißer. Ihr Verein war schließlich Hessens wahre Liebe – die Roten Teufel, mein Heimatverein in der von mir gewählten Heimat – in der Tabelle immer dahinter, aber klar sympathischer als die Huskies aus Kassel und die Löwen aus Frankfurt. Die Hessen-Derbies waren heiß umkämpfte Höhepunkte.
Meine Heimatlaufstrecke führte die Usa entlang, durch den Kurpark und hoch zum Johannisberg. Ich war weggegangen aus meiner Geburtsheimat, um hier angekommen zu sein und mich heimisch zu fühlen.
Und jetzt treibt es mich weiter. Heimat ist wie eine Eisscholle, auf der man sitzt. Eigentlich sitzt man immer darauf, aber ist auch immer wieder woanders.
Nein, Heimat ist keine Eisscholle, es ist ein kleines Floß in einer starken Strömung. Man muss unweigerlich weitertreiben, aber man hat ein kleines Steuer. Man kann sich aussuchen, wohin man steuert, sich seine Heimat selbst bestimmen.
Eine flüchtige Frau aus dem Südsudan steuert nach Europa. In Frankreich findet sie eine neue Heimat. Vielleicht im 19. Arrondissement in Paris? Dem ganz gemischten Stadtviertel im Nordosten mit dem schönen Park. Sie hatte sicherlich nicht an das 11. Arrondissement gedacht, als sie aus Afrika weggegangen war. Ihr ist egal, ob sie im 11. oder 19. Arrondissement angespült wird. Heimat ist da, wo sie sich wohlfühlt, nicht erschossen, entführt oder vergewaltigt wird. Zumindest glaube ich, dass sie das glaubt.
Heimat war für meine Mutter immer Oberschlesien. Sieben Achtel ihres Lebens hat sie nicht dort gelebt, aber es wird immer so für sie sein. Auch sie ist aus den gleichen Gründen wie die Frau aus dem Südsudan geflohen.
Meine Heimat ist da, wo ich mich wohlfühle. Heute lebe ich in zwei Städten in zwei Ländern. Wechsle immer dann in das andere Land, wenn ich mich in dem einen nicht mehr wohlfühle. An dem einen Ort gibt es Grüne Soße, an dem anderen escargots raisins (Rosinenschnecken). Beide Gerichte sind ein Stück Heimat für mich. Ganz selbstbestimmt kann ich weggehen, um wieder in der anderen Welt anzukommen. Vielleicht ist das auch therapeutisch, denn zumindest eine Heimat habe ja auch ich verloren. Je nach Sichtweise, bin ich nun heimatlos oder in zwei Welten zu Hause. Auf jeden Fall freue ich mich bei jedem Weggehen meistens auf das Ankommen.
Jürgen Artmann, Jahrgang 1970, wohnt in Strasbourg und in Frankfurt. Er beobachtet und schreibt über Alltägliches. Veröffentlichungen erfolgten in diversen Literaturzeitschriften.
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