Bernd Lange für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
Im fernen Spiegel des Meeres
Das Meer bewegt die Zeit,
hält sie nicht still,
in den ständigen Wellen geschieht so viel,
um dir zu zeigen,
wofür du noch keine Vergleiche hast.
Vom Gestern ist die Rede. Besser gesagt, das Schweigen. Obwohl sie die Vergangenheit nicht mehr erwähnen will, nicht mehr spricht von den Booten in der kleinen Bucht, von den blauen und grünen Fischerbooten, deren Holz leise die Melodie des Träumens summt, wenn die sanften Wellen des Meeres die farbig stumpfen, bäuchigen Wände umspülen. Sie auch nicht mehr daran erinnert werden will, um sich in diesen Gedanken weiter zu verirren. Obwohl diese Stille für sie immer noch der Anfang aller Inspiration ist.
Im Fenster findet sie den täglich wiederkehrenden Ausschnitt der Nacht. Einen Ausschnitt, der ihr die Sehnsucht von der Unendlichkeit des Himmels zaubert. Der ohne ihr eigenes Hinzutun eine so dünne Linie zeichnet, um ihr übergangslos auch die Illusion von der Unendlichkeit des Meeres zu erklären. Vergeblich zu erklären. Sie steht alleine am Strand, spürt die milde Luft, die im Nachtwind weit draußen mit den Wellen spielt. Nur ein einziger Augenblick ist es, in dem sie an den Ort wechselt, der ihre Zeitenfolge verwischt. Es gelingt ihr auch in dieser Nacht nicht, diesem Augenblick zu widerstehen. Sie erreicht, ohne es zu wollen, diesen Moment, in dem Gegenstände und Bilder übereinstimmen. Vor ihrem Auge entsteht der Entwurf einer Landschaft, geformt aus Wasser und Sand, deren Teile aus Erinnerungen und Gefühlen bereits vorhanden sind.
Das Meer liegt flach
unter der glitzernden Lichtspur des Mondes, die irgendwann ankommen wird
zu deinen Füßen,
um den Saum deines Kleides herum.
Mitternachtsträume wie auf Samt, Mittelmeerzauber wie auf Hochglanz, Mimosenzweige wie auf Aquarell. Sie sieht, wie die leichten Wellen, Sahnehäubchen auf Sandkuchen, den Strand hinanhuschen. Um gleich wieder hinabzutauchen in die Willkür der Formen und Farbnuancen. In die Zufälle, die ihre Gedanken beim Blick aus dem Fenster komponieren. Sie erkennt zwischen den leuchtendgrünen Blättern und blassrosa Blüten der Heckenrosen, die sich an die weißgetünchten Mauern der Gärten lehnen, das vielfältig zwiespältige Leben der Spinnen, wie sie beschäftigt sind mit ihren Systemen der Zuversicht. Der Vergleich zwingt sich förmlich in ihr auf beim Betrachten des Sternenhimmels, sie lernt daran die Neuigkeiten der Wiederholung.
Die Milchstraße funkelt wie eine Quarzader im dunklen Fels. Der Himmel leuchtet, Schein auf Widerschein, dem Fischerboot weit hinten auf dem Meer entgegen. Pinienbäume greifen mit ihren durch den Wind bewegten Armen nach dem Mond. Sie hat sich fest vorgenommen, nichts mehr sehen zu wollen. Und dann bewegt er sich doch wieder, der Horizont. Die dünne Linie, die plötzlich auf den Wellen schaukelt, als würde sie es extra machen. Sie kann das Bild nicht verwischen, es verschwindet nicht im nächtlichen Dunst, der so verführerisch nach Salzluft und Pinienharz schmeckt. Die Türen sind weit offen. In dem sie hinausgeht, geht sie hinein, und spürt die Hitze, die lautlos über den Dächern liegt.
Das Meer verschluckt die Worte
wie Spuren im Sand,
die, ob wichtig, ob nichtig,
gesagt werden,
um die Stille des Tages zu erklären.
Sie weiß, dass sehr viel davon abhängt, wie sich ein beginnender, ein neuer Tag anfassen lässt. Wie sich die Luft, die hinter den Wäldern hervorkommt, anfühlt. Wie sie sich fühlt, in dem sie den Horizont anschaut, in dem Moment, wenn er hell wird. Sie glaubt immer noch, dass ihr Traum ins Offene führt. Doch sie spürt, dass er sie an den Strand führt, der ihr Erwachen dort ins Nichts auflösen wird. Und sie hofft, dass der Morgen noch einmal zurückkommt, an dem die Sonne keine Schatten wirft. An dem die Fragen nicht stumm bleiben, die bis tief unter die verwitterten Farbreste auf den gestrandeten Holzplanken der Boote gehen.
Mehrmals am Tag wechselt das Licht, Wolken schieben sich durch die Sonne. Sie hat nie richtig erkennen können, wie der Himmel zwischen den Zweigen der Bäume seine Zufälle inszeniert. Es gibt auch keine Notwendigkeit mehr. Es riecht nach untergehender Sonne, die Sonnenblumen in den Gärten sind soweit, Schatten an die Hauswände zu werfen. Durch die Gärten geht eine Stille, fast ohne Bewegung. Bis die Nacht wieder dazwischentritt. Und sie mittendrin ist, in all diesen Veränderungen des Einst.
Der Schrei einer Möwe zerschneidet ihren Horizont. Das Einst ihres letzten Sommers ist vorbei, ohne dass sie es genommen hat.

Bernd Lange
„Was ich über mich schreibe:
_ geboren am 11. Juli 1949 in Berlin;
_ gewachsen in Köln;
_ gelebt in Stuttgart, Freiburg und wieder in Stuttgart;
_ geschäftlich bis 2018 als selbständiger Werbe- und PR-
Texter, Konzeptioner sowie Redakteur, Fachautor und Blog-
Arbeiter unterwegs gewesen;
_ Dozent für Kommunikation und Werbliches Schreiben;
_ seit 2022 im “Unruhestand“ an der Uni Tübingen nochmals
angefangen zu studieren: Literaturwissenschaft/Kreatives
Schreiben und Klassische Archäologie.
Was andere über mich erzählen:
Vor meiner Schreibmaschine sitzt er, lebt er.
Freut sich über geglückte Worte, verflucht misslungene.
Wenn der Mond mit seinen Schatten Sujets camoufliert, ist er glücklich.
Und wenn dann die Sonne wieder mit ihrer Evidenz prahlt, geht sein Leben weiter. „
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