Ballast

Renate Schiansky für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“




Ballast

Eine Weile verharrte sie unschlüssig an der Schlafzimmertüre, ließ den Blick über die unberührten Laken des Ehebetts schweifen und über das weiße Nachtkästchen, auf dem sich die extravagante Nachttischlampe ein wenig deplatziert in die Höhe streckte. Ein vorwitziger Sonnenstrahl  tanzte durch die Lamellen der Jalousie, sie machte einen zögernden Schritt, der zweite folgte viel leichter, schon stand sie am Bett und warf den alten Lederkoffer auf die Tagesdecke. Dann wandte sie sich dem Kleiderschrank zu. Vorsichtig nahm sie das blassblaue Sommerkleid zur Hand; jenes Kleid, das sie getragen hatte, als sie Paul zum ersten Mal begegnet war; sie hielt es an und warf einen Blick in den Spiegel: ein schwingender Rock, ein breiter Bund: nicht mehr ganz modern. Sie drehte sich kokett: ein wenig zu kurz war das Kleid wohl auch, aber man konnte es durchaus noch tragen. Sorgfältig löste sie die Träger von dem hölzernen Bügel, faltete das Kleid zusammen und legte es in den Koffer.

Da war der Pulli, den Paul ihr auf der Hochzeitsreise in Norwegen gekauft hatte; in jenem entzückenden kleinen Städtchen am Fjord; an jenem Abend, an dem das Wetter so plötzlich umgeschlagen war und sie beide völlig durchnässt und halb erfroren das allerletzte Zimmer in einem furchtbar teuren Landhotel ergattert hatten. Es war ein hübscher Pulli, aus kuschelig warmer, weicher, hellgrauer Wolle, mit dem typischen weißen Norweger Sternenmuster. Sie hatte ihn nicht sehr oft getragen, aber in der einen oder anderen  langen Winternacht, die sie auf Paul gewartet hatte, hatte er ihr doch gute Dienste geleistet.

Ihr Blick fiel auf ein Paar hochhackige rote Ledersandalen und sie fragte sich, wie sie es jemals geschafft hatte, damit zu laufen. Paul zuliebe hatte sie sie manchmal zum Tanzen getragen, weil er sie so gerne an ihr sah. Sie probierte sie an, machte ein paar unsichere Schritte durchs Wohnzimmer bis in die Küche; stolperte und wäre beinahe gestürzt. Mit einem leisen Fluch zog sie die Sandalen aus. Zum Glück war nur der Absatz gebrochen und nicht ihr Bein. Ohne Bedauern warf sie die Schuhe in den Müll.

Zwei gestreifte T-Shirts; eines in blau, eines orangefarben. Paul hatte immer behauptet, Streifen stünden ihr gut. Ein paar Tops mit Spaghettiträgern, eine dunkelblaue Bluse mit tiefem Rückendekolleté und Einsätzen aus Spitze, farblich passende Strümpfe. Für Paul hatte sie sich gerne in dunkles Blau gekleidet. Sie stapelte alles ordentlich in einer Ecke ihres Koffers und packte auch den elegant geschnittenen grauen Rock dazu.

Als nächstes nahm sie die Jeans zur Hand, die sie während ihrer ausgedehnten gemeinsamen Radtouren oft getragen hatte. In der linken Gesäßtasche fand sie ein Taschentuch, eine Bahnkarte und einen zusammengefalteten Geldschein. Sie war schon sehr lange nicht mehr mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Bei genauer Betrachtung schien die Hose schon ein wenig verwaschen und an manchen Stellen leicht abgewetzt, aber für ein oder zwei Saisonen würde sie noch gute Dienste leisten; ebenso wie die dazu passende Jeansjacke, der Nietengürtel und die beiden karierten Holzfällerhemden.

Der Bikini war noch wie neu. Paul hatte an Strand und Badeurlaub nie wirklich Freude gehabt. Da lag auch das große Strandtuch: „Liebe ist  … “  Sie faltete es nicht auseinander. Irgend etwas, sie erinnerte sich vage, war darauf gestickt; davon, gemeinsam übers Meer zu rudern oder zu segeln. Es war nicht mehr wichtig. Sie rollte das Tuch zusammen, sodass es sich noch an einer Seite in den Koffer quetschen ließ. Ganz obenauf breitete die scheußliche, knallbunte Decke, die Paul ihr aus Guatemala mitgebracht hatte; von der ersten Reise, die er ohne sie unternommen hatte.

Alleine.

Oder doch nicht alleine.

Sie zuckte die Achseln und klappte den Deckel des Koffers zu. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges.

Sie schlüpfte in bequeme schwarze Pumps, nahm ihre Handtasche vom Haken, legte die Wohnungsschlüssel im Vorzimmer auf die Kommode und löschte das Licht. Entschlossen trat sie auf den Korridor hinaus und zog hinter sich die Türe zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Zwei Treppen nach unten schleppte sie den alten braunen Lederkoffer, quer über den kopfsteingepflasterten Hof, weiter durch die schmale Einfahrt, dann stand sie auf der Straße. Eine sanfte Brise trug den Duft des Frühlings heran und zauste ihr Haar. Sie ließ den Blick schweifen über die Bäume, die Häuser, die Menschen auf dem Bürgersteig. Die Mittagssonne kitzelte ihre Nase, sie streckte sich, atmete zwei Mal tief durch, schaute erst nach rechts, dann nach links, und setzte sich schließlich in Bewegung. Zwei Straßen weiter und ein Mal um die Ecke wusste sie einen Laden der Caritas. Dort schob sie den Koffer hinein.

Kein Bedauern.

Keine Erinnerungen mehr. Kein unnötiger Ballast.

Zögernd stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie das Taxi heranwinkte; ein wenig unsicher noch, aber sie hieß es willkommen; sie war bereit.

„Zum Bahnhof!“ dirigierte sie den Chauffeur.

Zum nächsten Zug.

Hinaus in die Freiheit.

Hinein ins Leben.





Renate Schiansky *1959 in Wien, 2 Kinder

war 20 Jahre lang Sachbearbeiterin der Rechtsfürsorge im Jugendamt

mag außer Büchern auch noch Fotokameras, Sprachen und alte Landkarten

hat Papier und Stift immer griffbereit, schreibt auch sehr gerne im Dialekt

lebt mit Bartagame Siegfried und Hamster Daphne in Wien

wäre am liebsten ständig auf Reisen

Finalistin zeilen.lauf  Wettbewerb 2018 und 2019 in Baden

Finalistin Ralf-Bender Krimipreises 2019

Gewinnerin des Eyelands International Short Story Contest2018

https://renateschiansky.wixsite.com/carlainthesky






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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