Going up the country

Friederike Christina Hüttig für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“




Going up the country

und ihr Wlan, das funktionierte mal wieder nicht und ihr Kopf genauso wenig. Und jedes Mal, wenn sie nachts die schwere Treppe hinunterstieg, die sich unter ihren Füssen bedrohlich zu verbiegen drohte, kam ihr ein endlicher Gedanke, instruktiv könnte man behaupten. Ein Haus, zum drinnen wohnen, einen Garten zum Blumen pflanzen und einen Mann zum Liebhaben. Und das Kind…
Wie soll ein Mensch sich jemals komplett erfüllt fühlen, ein Mensch, der zwar einen eigenen Willen und Synapsen zum Denken besitzt, aber nie wirklich die Freiheit bekam sein glück selbst zu entscheiden. Der Mensch in dessen Kopf, seitdem er denken kann diese Stimme der unsicheren Vernunft herrscht, die ihn daran hindert, mitten im Unterricht, auf dem zu Tisch tanzen und sich die Kleider vom Leib zu reißen. In vielerlei Hinsicht nützlich, wenn man seinen Job behalten will, zum Beispiel. aber wenn die Stimme dir jede Chance nimmt Entscheidungen aufgrund von Intuition und Gefühlen zu treffen wie geht es dann weiter? Wirst du auf sie hören und immer Acht geben dich, um keinen Preis zu blamieren, denn, mal ganz ehrlich, was wäre schlimmer als nackt auf der Schulbank herumzutanzen? Die Konsequenzen dieser 8 Sekunden ungeteilten Aufmerksamkeit und Freiheitsgefühl wären einfach nicht vergleichbar damit sein restliches Grundschulleben lang, und das kann verdammt lang sein, angestarrt, verurteilt, ja verstoßen zu werden. Das ist der Grund. Einsamkeit. Nichts ist schlimmer als Einsamkeit. Wenn man jahrelang kaum einen Ton vor anderen Mitschülern herausbekommt und sich nach all der Zeit durch so eine Tat Gehör verschafft, scheint es viel weniger ein witziger Zwischenfall zu sein als vielmehr dieses eine Ereignis das dich für den Rest deines Lebens zum sozialen Außenseiter werden lässt. Ganz egal, wie viele gute Bücher du noch lesen wirst, wie lecker die Waffeln mit Apfelmus in deinem Lieblingscafé schmecken oder wie schön dieser eine Tag im Park doch war, als es Februar war und die Sonne so herrlich warm auf deinen Nacken geschienen hat und du die ersten Schneeglöckchen gesehen hast, eine Sache wärst du dabei immer. Allein. Wem würdest du das Café weiterempfehlen, mit wem über all die Bücher diskutieren? Warum also das Risiko eingehen alles zu verlieren all die hart erarbeiteten Freunde und das bisschen Respekt das dein Umfeld für dich hat einzubüßen. Also beginnst du der Stimme zu vertrauen. Die Stimme, die dich davon abhält, alles zunichtezumachen und nochmal ordentlich drauf zu spucken. Vielleicht hat sie ja recht mit ihren kleinen Sticheleien und nett gemeinten Ratschlägen. Die Komfortzone, dieses heilige Reich aus Vier Wänden das nie verlassen werden darf, niemals ein Risiko eingehen denn, ist es die Konsequenzen wert? Wahrscheinlich nicht.
Doch so ein komplexer Monolog kann einem nicht mir nichts dir nichts 2:37 Uhr nachts einfallen, wenn man gerade die Treppe von der ersten Etage ins Erdgeschoss nimmt, um nach dem Kind zu sehen. Das Kind, noch so eine Entscheidung. Nicht, dass sie es nicht gewollt hätte, sie liebte ihre Kleine über alles. Aber trotzdem war da dieser Zweifel, der der sie dazu animiert hatte mit 25 statt mit 35 zu entbinden. Zu groß schien ihr die Gefahr, die Gebärmutter könnte schlappmachen oder der Mann weglaufen. Es war alles sehr riskant, dieses Leben.

Sie setzte jeden ihrer Schritte behutsam, ein Fuß vor den anderen, um niemanden aufzuwecken. Vielleicht wäre alles ganz anders gelaufen ohne diese Stimmen und vielleicht hätte sie sich dann nicht ihre eigene kleine Familie gemacht, eine wundervolle Familie ohne Zweifel. Wundervoll…
Aber was ist ein Leben ohne Risiko, in dem man immer auf Nummer sicher geht. Es hätte auch eine Wohnung sein können aber nein, so ein Haus, das ist viel robuster, da können wir drinnen alt werden und müssen nie mehr umziehen, ich liebe dich doch so sehr, Schatz, reichst du mir die Kartoffeln?
Keineswegs eine rückschrittliche Ehe, irgendwann, am Anfang ihres Studiums hatte sie begonnen den Mund aufzumachen, nicht für sich selbst, aber immerhin für die die es nicht konnten oder gar nicht besser wussten. Politik lag ihr am Herzen, eine Sache für die sie wirklich, argumentativ und ohne die Gefahr sich zu blamieren, indem sie falsche Tatsachen darlegte, ihre Meinung kundtun konnte. Er blieb zuhause, sie ging arbeiten und sie liebten sich umso mehr dafür, dass der eine den Wünschen des anderen nachgekommen war, schließlich war er hervorragend mit Kindern und sie hätte es nicht ausgehalten, in diesem Einfamilienhaus in einem Vorort, als Hausfrau. Was mit dem Feminismus nichts zu tun hatte. Sie konnte sowas einfach nicht. So war sie nicht und würde es nie sein können.
Unten angekommen, sich durch die Dunkelheit tastend und auf mögliche Geräusche horchend. Warten. Warten auf ein Lebenszeichen, ein Husten oder Weinen, das ihr bestätigte, dass sie einen Grund hatte, nachts aus dem Schlaf gerissen zu werden und dem Gefühl zu folgen, man nenne es mütterliche Intuition, dem Gefühl, dass sie unbedingt nach ihr sehen musste. Sie folgte diesem Instinkt, ohne zu wissen, dass es sich weniger um Intuition als mehr eine Vorahnung handelte. Friedlich schlafend lag sie dort in ihrem hölzernen Kinderbett, eines dieser minimalistischen Ikea Dinger das sie an einem heißen Sommertag unter Schweißausbrüchen und sengender Hitze gemeinsam ins Kinderzimmer getragen hatten. Langsam wuchs sie darüber hinaus und ihre gekrümmte Schlafhaltung verriet, dass sie, Oberkörper und Beine ausgestreckt, ihre Matratze um mindestens zehn Zentimeter überragt hätte. Erleichtert atmete sie aus, nicht zu laut, um die Kleine nicht aus ihrem Schlag zu reißen, ein Schlaf der wie ihr friedlich lächelndes Gesicht preisgab, tief und angenehm war. Ihre Annahme wurde bestätigt als sie sich zum Gehen wandte, die Ohren noch einmal spitzte und hörte wie ihre Tochter geräuschvoll, aber gleichmäßig atmete.
Wie kann ein Mensch, der so vieles hat, ein Haus, ein friedlich schlafendes Kind, einen Mann, neben den sie sich nun legen würde und der sich im Schlaf an sie schmiegen und ihr „ich liebe dich“ ins Ohr flüstern würde, wie konnte so ein Mensch nicht erfüllt und zufrieden sein. Selbstverständlich konnte sie nicht durch ihr gegenwärtiges Leben spazieren und rund um die Uhr in Ohnmacht fallen vor Dankbarkeit. Doch wo blieb es, dieses Gefühl von Glück, das Gefühl etwas erreicht zu haben, wovon so viele Menschen träumen.
Ganz einfach, oder zumindest, in einem Satz zu beantworten. Es war nicht ihr Traum. Sie hatte all diese Entscheidungen getroffen, diese Bilderbuchfamilie geschaffen, sich mit den richtigen Leuten angefreundet. Kaum aus einem Gefühl des Wollens heraus. Mehr ein Müssen. Etwas haben müssen, etwas zum Leben, etwas zum Kuscheln, etwas zum Liebhaben. Menschen finden ihr Glück in anderen Menschen und Einsamkeit war ihr persönlicher Erzfeind. Menschen brauchen Menschen, wie soll man sonst glücklich werden? Das Risiko einzugehen, sich auf sich selbst zu verlassen und von Menschen nicht gemocht zu werden war ihr zu hoch. Alles war ihr zu hoch, solang es sich um ihr Privatleben handelte. Beruflich, meinetwegen, politisch, Ja bitte, aber sobald es die Frage überstieg ob sie Ein Toast oder ein Brötchen zum Frühstück essen sollte, überkam es sie mit der Angst. Angst vor allem, versagen, blamieren, schlicht und einfach, Angst zu verkacken. Es war ein drückendes Gefühl, was sich Jahr um Jahr mehr ausbreitete, seitdem sie denken konnte, die Angst etwas zu verpassen als würden all die Chancen einfach an ihr vorüberziehen und sie zurücklassen in ihrem Loch aus Ängsten.
Schlafsuchend drehte sie sich von einer Seite zur anderen und blickte sich hilfesuchend nach dem Wecker um. 2:45 Uhr. Fast zehn Minuten, seitdem sie das Bett verlassen hatte, und es kam ihr vor wie Sekunden. Zehn Minuten weniger schlaf, zehn potenzielle Minuten Tiefschlaf wohlbemerkt. Der Mond leuchtete ihr durch die Weißen Vorhänge deren Zweck ihr ohnehin fremd war auf ihr Gesicht und verhinderte jeden Impuls die Augen zuzuschlagen.
Ein Tag mit Augenringen erwartete sie, die Sonne schien und erhitze das zuvor so angenehm kühle Schlafzimmer auf weniger angenehme, fast schwüle Temperaturen. Und als sie sich so im Spiegel beobachtete und eine kleine Falte unterhalb ihrer Augenränder bemerkte, fuhr sie langsam mit ihren Fingern darüber und seufzte.
Frühstück. Verschlafen und in Gedanken versunken trank sie ihren Kaffee, schwarz und ohne Zucker. Im Radio lief “going up the country” von “cannned heat” und sie dachte an warme Sommertage, an das Woodstock Festival von 69 und versank immer mehr in der Tiefe ihrer Gedanken, rotierend und unaufhaltsam. Ein fremdes Jahrzehnt, eine ganze Generation von Hippies die drei Tage lang im Schlamm getanzt und friedlich miteinander gelebt hatten. Mit den Erinnerungen an eine Zeit, von der sie nicht einmal teil gewesen war, überkam sie eine schier unbändige Sehnsucht. Sehnsucht die sich mit rasender Geschwindigkeit in Wut verwandelte.
Sie wollte Rache. Rache für all die Male die sie sich ausgelacht gefühlt glaubte, von Menschen, die vermutlich nicht einmal ihren Namen kannten und eher über den Unterscheid zwischen rosa und rot diskutiert hätten als ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Rachedurst, der durch die scheußliche Erkenntnis genährt wurde, dass diese Menschen, von denen sie sich verurteilt gefühlt hatte, grundlos verurteilt gefühlt hatte, sie wahrscheinlich kaum eines zweiten Blicks würdigen würden, die Erkenntnis, dass es nicht an ihrem Umfeld lag und den Menschen, vor denen sie Angst hatte. Es waren die Gedanken, diese stimme die sie glauben lies es gäbe nichts Peinlicheres auf der Welt als dem Kellner ebenfalls einen guten Appetit zu wünschen, wenn er einem das Essen bringt und als wäre es der größte Weltuntergang an einem öffentlichen Ort ein bisschen zu laut genießt zu haben. Es sind die dieselben Gedanken, die uns daran zurückhalten der Person, die wir lieben unsere Gefühle zu offenbaren. Früher oder später suchen sie jeden einmal heim, die Frage ist wie lange sie vorhaben es sich in unserem Kopf gemütlich zu machen.

Das Radio, die Falten, die Gewissheit sich mit den sie umgebenden Menschen nie wirklich erfüllt oder glücklich zu fühlen. All das bestärkte sie in ihrer Wut, ihrer Enttäuschung vom Leben. Kaum zu fassen wie viele Entscheidungen es zu treffen gab, wie oft das Versagen direkt vor der Tür stand und nur darauf wartete mit einem dramatischen Auftritt das ganze Haus in Aufruhr zu versetzen. Doch was auch immer dazu geführt hatte, dass sie nun diese Leben führte, welche Wendungen auch immer sie gegangen oder nicht gegangen war, sie war nun im Begriff das komplette Kartenhaus, gebaut auf ihrem fragilen mentalen Zustand den zu verheimlichen sie sich, ohne es zu merken antrainiert hatte, mit dem Arsch wieder einzureißen.
Das Haus war still, ihre Tochter saß bereits auf dem Weg zur Schule, angeschnallt und aufgeregt mit den Füßen wippend auf der Rückbank ihres gemeinsamen SUVs, was würde heute passieren, ach wie schön doch die Bäume blühten und ach wie unbeschwert doch das Leben war.
Hektisch rannte sie die Treppe nach oben, Scheiß’ auf das Geknarzte und auf das Getrampel! Es war nicht die Zeit sich angemessen eines Dienstag Morgen gegenüber zu verhalten. Eine Tasche voll willkürlich zusammengewürfelter Klamotten und einen lauten Türknall später stand sie in der Einfahrt.
Und sie trat hinaus in diesen endlos schönen Frühlingstag, streifte sich die Schuhe ab und tanzte, sie tanzte auf all den Schulbänken auf denen zu tanzen sie es sich nie gewagt hätte, tanzte und schrie, vor Glück, aus Erleichterung und Angst wer sie wohl beobachten könnte, wer sie stören könnte, in diesem Moment der Ruhe, der Moment, an dem die Intuition endlich die Gedanken übertönte und sie sich endlich frei fühlte. Frei nach so langer Zeit. Frei wie ein Vogel, frei wie die Hippies die bei Woodstock im Matsch tanzten, frei wie jemand der seinem Gefühl folgt. Jemand der eigentlich gar nichts richtig folgt, der einen Ort sucht, an dem er noch nie war, ein Ort, an dem das Wasser nach Wein schmeckt, nicht morgen oder in ferner Zukunft, sondern heute. Jetzt.




Friederike Christina Hüttig






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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