Marina Thomas für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
Smirna sucht
Smirna wusch rote Rüben und schaute zu, wie die Farbe im Spülbecken Schlieren zog. Man konnte sich leicht darin verlieren, wenn man nicht aufpasste. Es war 19.58h: Gleich musste sie dem Mann die Nachrichten und den Sonntagskrimi einschalten. Wahrscheinlich beruhigt es die Deutschen, dem Verbrechen so eine Regelmäßigkeit aufzuzwingen. Sie stellte die roten Rüben auf den Tisch und ging zum Mann ins Zimmer. An manchen Tagen sah sie ihn als Kraken. Schnell räusperte sie sich und warf ihm ein Lächeln zu. Der arme alte Mann hatte Metastasen in den Knochen und musste starke Schmerzmittel bekommen.
Sie schaltete den Fernseher an und nahm sein Geschirr mit in die Küche. Da hatte er doch tatsächlich das Ragout gegessen und die Pistazien liegen gelassen. Er hatte mal viel Geld verdient, weshalb er sich auch heute noch manchmal für Casanova hielt und glaubte, ihm gehöre die Welt. Dabei waren sowohl die Frauen als auch das Geld immer schnell wieder fort gewesen. Angeblich war er zufrieden damit, er hatte sein Leben genossen. Das hatte er schon oft beteuert, ohne dass sie ihn darum gebeten hätte. Wahrscheinlich wusste er insgeheim, dass er übertrieben hatte. Sie warf die übrigenPistazien weg und sank schnaubend auf die Küchenbank.
Smirna saß nun schon eine ganze Weile am gedeckten Tisch und hatte noch immer nichts angerührt. Während sie gezögert hatte, war das Essen vor ihrer Nase kalt geworden. Die beschwingte Musik vom Tatort holte sie zurück. Immer diese Geschichten. Gewalt, ein Drogendealer, die obligatorische Sexarbeiterin. Zu solchen Figuren hatte sie keinen Bezug. Wie alle Dienstleisterinnen verkaufte sie zwar ihren Körper, aber immerhin selbstständig.
Hastig aß Smirna ihre Rüben und ging die Treppe hinauf. Auf ihrem Nachttisch lag Vernon Subutex und darunter sechs andere Bücher, alle beinahe ausgelesen. Sie las am liebsten idealisierte Romane von Liebespaaren ohne Ängste. Nur um sich an die letzten zehn Seiten einer Geschichte zu wagen, brauchte sie oft mehrere Jahre. Erst wenn die Geschichte schon etwas in Vergessenheit geraten war, konnte sie das Ende ertragen. Wenn man ihre Geschichte lesen würde, hätte man dann auch Angst vor dem Ende? Dazu war ihre Geschichte eigentlich zu fad. Wie bei so vielen Geschichten war das Interessanteste an ihr wohl ihre Schwäche. Da rief der Mann. Was er wohl brauchte? Smirna ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür zum Krankenzimmer. – Ob das da Michael Fassbender sei. – Wo? Wer? Halluzinierte der Mann nun? Sie blieb an der Tür stehen und schaute sich im Krankenzimmer um. Ah, im Tatort! „Jaja, sicher. Bestimmt ist er das.“ Nicht mehr lange und der Mann würde noch durchdrehen. Sie verabreichte ihm eine Dosis Schmerzmittel und wünschte ihm eine gute Nacht.
Im Bad legte sie alles auf die schleudernde Waschmaschine und setze sich auf die Toilette. Hier hatte sie endlich ihre Ruhe. Diesen Moment hatte sie ganz für sich. Bald schaute sie in die drehende Trommel der Waschmaschine und hatte das Gefühl hineingesogen zu werden. Als sie dem nachgab, lächelte sie beruhigt. Es wurde dunkel und das Schleudern klang dumpf als wäre ihr Körper in Watte gepackt. Irgendwann musste sie ihren Kopf auf die Knie stützen. Die schwarzen und weißen Fliesen unter ihren Füßen waren wie ein Schachbrett angeordnet. Lustig, man könnte meinen, sie bewegten sich. Im Grunde war doch alles ganz gut, dachte sie, als sie ins Bett taumelte. Sie sank in ihre Kissen und mit den Knöpfen der Bettdecke oben glitt sie sanft auf die andere Seite.
Sie sah ein Mädchen auf der Straße sitzen. Obwohl sie barfuß im Schnee saß, fror sie nicht. Sie zündete Streichhölzer an, lachte unbeschwert und genoss die kurze Freude der Flamme. Solange sie lebte, war ihr wohlig warm ums Herz, und als die Streichhölzer verbraucht waren, erfror sie lächelnd.
Am nächsten Morgen war Smirna übel. Sie backte einen Kuchen und nicht einmal der Geruch von Vanillezucker konnte ihre Stimmung heben. Fett, Zucker, Schaum. Ihr Rachen brannte und sie hatte nichts übrig für Luxus. Das bisschen Eischnee forderte ein Dutzend Eier und noch viel mehr Seufzer. Beim Eischnee fiel ihr der Traum wieder ein. Schnee und beißende Kälte. Aus dem Eigelb machte sie dem Mann Rührei zum Frühstück. Was er nicht aß, warf sie schweren Herzens weg.
Es klingelte und das kleine Auto von der Sozialstation brachte eine in ihr Wohnzimmer, die aus der Bibel vorlas. Der heilige Prophet erschien nach seiner Auferstehung als erstes der Maria. Als sie den Jüngern davon berichtete, glaubten sie ihr nicht. Die durchgeknallte Alte. Smirna war nicht in der Stimmung für moralisierende Märchen. Sie verließ das Wohnzimmer, um nach dem Kuchen zu sehen. Ihre Hände zitterten und sie verbrannte sich am Backofen. Jaja, Gottes Strafe, Gottes Gnade. Was erhoffte die Seelsorgerin sich überhaupt davon? Man kann solchen Leuten nicht über den Weg trauen. Wer die Moralkeule schwingt, führt oft versteckt noch etwas Eigennütziges im Schilde.
Da stand die Seelsorgerin auch schon in der Küchentür: „Hat Ihnen die Geschichte nicht gefallen?“ – „Doch, doch, sehr. Ich musste nur eben den Kuchen aus dem Ofen holen.“ Smirna schob der Frau ein Stück hin. „Zucker ist schon im Kaffee, es sei denn Sie trauen mir nicht.“ – Wie bitte?“, die Seelsorgerin hielt inne. Aber Smirna war schon ins Krankenzimmer verschwunden, um dem Mann ein Stück Kuchen zu bringen. Und auch, um der Seelsorgerin eine Chance zu geben, sich ungesehen noch ein Stück Zucker zu nehmen. Wahrscheinlich befürchtete sie, dass Smirna sie sonst für gierig hielt.
Smirna war noch nicht einmal zurück in der Küche, da hörte sie die Frau von der Sozialstation schon wieder fröhlich plappern. „Bewundernswert, wie Sie das alles meistern. Der Kuchen ist übrigens wunderbar! Ich wusste gar nicht, dass es Anfang April schon Rhabarber gibt. Essen Sie denn nichts? Wie geht es Ihnen heute?“, schmatzte die Seelsorgerin mit vollem Mund. -„Gut, danke. Nein, ich habe spät gefrühstückt.“ Smirna konnte nichts essen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, aber auf eine beißende Art, als hätte sie Traubenkerne gekaut. Die Seelsorgerin leckte sich über die Lippen und ihr Schlingen war irritierend. Sie hatte ein Haar im Mund und lächelte freundlich über beide Ohren. „Ich nehme mir noch ein Stück, ja?“, und hatte es schon auf dem Teller. Smirnas Bein wippte auf und ab und sie musste darauf achten, dass sie nicht das der Seelsorgerin berührte. Sie strich mehrmals die Tischdecke glatt und hielt es nicht mehr aus.
Es reichte. Der Mann brauchte seine Medikamente. Er lag wie immer in seinem Bett und sah fern. Alec Guinness mit schwarz gemalten Augenbrauen erklärte Lawrence gerade, dass kein Araber die Wüste liebe. Nichts Grünes gedeihe dort. Niemand sei so genügsam, dass er in der Wüste leben könne. Auch wenn der Westen die Araber gern als barbarisch, gierig und grausam hinstellte, habe es im maurischen Cordoba schon beleuchtete Straßen gegeben, da war London noch ein Dorf. „Na, wie geht es Ihnen? Keine Schmerzen? Fein so.“ Sie würde trotzdem eine Spritze vorbereiten, denn seit gestern Abend hatte er nichts mehr bekommen. Jemand der sich sein ganzes Leben so betäubt hatte, konnte Schmerzen weder wegdrücken, noch aushalten. Gut, dass sie da war. Doch als Smirna die Schublade öffnete, war sie leer. Sie schauderte. Hatte sie ohne es zu registrieren, die letzte Ladung verbraucht? Verlegt?
Smirna durchsuchte hektisch die anderen Schubladen. Ohne anzuklopfen kam die Seelsorgerin herein: „Was ist denn los? Kann man helfen?“ Smirna brauchte ihre verdammte Hilfe nicht, aber um sie abzuwimmeln, antwortete sie, dass sie die Medikamente suchte. Nicht zu fassen, dass jemand wie die Seelsorgerin sie nun für unordentlich hielt. Eine Frau, die sich unbedarft über die Lippen leckt wie ein Hund und die es nicht stört, wenn sie ein Haar im Mund hat. In dem Moment stöhnte der Mann auf. Das konnte doch nicht wahr sein, setzen ausgerechnet jetzt die Schmerzen ein? Womit hatte sie eigentlich so viel Pech verdient? Die Seelsorgerin sah Smirna mit besorgter Miene an. Aber niemand sollte so auf sie herabsehen. Sie hatte alles im Griff. Doch der Mann stöhnte, es war nun wirklich Zeit zu handeln.
Smirna lief vom Krankenzimmer in den Flur und riss wahllos Schubladen und Schränktüren auf. Gestern war doch alles noch da gewesen. Die Medikamente konnten unmöglich leer sein. Sie solle sich nicht so aufregen, versuchte die Seelsorgerin Smirna zu beruhigen, das könne ja mal passieren. Aber wahrscheinlich dachte die Seelsorgerin sowieso, man solle dem Mann keine Medikamente geben, der liebe Herrgott würde alles schon richten. Hatte sie sie vielleicht sogar versteckt? War sie hier, um dieses Haus von dem zu befreien, was sie für Sünde hielt? Oder zumindest einmal auf die Probe zu stellen? Das ist doch kein Spiel! Ohne die Schmerzmittel würde dieses System nicht mehr funktionieren.
Schon wieder stand die Seelsorgerin hinter ihr und Smirna fühlte den Dackelblick in ihrem Rücken, ohne dass sie ihn sehen musste. Wenn die mir jetzt auch noch die Hand auf die Schulter legt, trete ich ihr die Zähne aus. Was starrte sie sie denn nur so bescheuert an? Smirna konnte es nicht mehr für sich behalten: „Wieso verfolgen Sie mich? Wieso machen Sie mir immer das Leben schwer? Haben Sie keine eigenen Sorgen? Raus hier! Verschwinden Sie sofort aus diesem Haus und nehmen Sie Ihre teuflische Märchenfibel mit!“ Die Seelsorgerin riss ihre großen Hundeaugen auf, nahm ihre Bibel schützend an sich und lief jaulend hinaus. Sofort bereute Smirna ihre Grausamkeit und wollte wieder das tun, wozu sie ausgebildet wurde.
Doch erst musste sie sich um die Medikamente kümmern. Wieder rein in die Küche, durchs Wohnzimmer, ins Krankenzimmer. Der Mann begann sich zu winden. So viel Leid. Ein Kult und eine Kultur, die Leid und Duldsamkeit glorifizierten. Märchen dienten dazu, Menschen schwach zu halten. Der Herrgott liebt die Schwachen. In der Bibel wie auch bei Hans Christian Andersen steckten die Menschen immer in verzweifelten Situationen und fanden Erlösung erst in einer anderen Welt. Hauptsache man erwartet die Gerechtigkeit nicht gleich oder bedient sich gar. Smirna suchte verzweifelt weiter, sie war entschlossen, dem Leiden ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Sie lief die Treppe hinauf, in ihr Schlafzimmer, ihr Bad. Schon beim Anblick der Schachbrettfliesen atmete sie auf.
Wie konnte sie das nur vergessen haben? Schuldbewusst nahm sie alles mit hinunter zum Mann, der stöhnend im Bett lag. Doch ihre Hände zitterten zu sehr, um ihm eine Spritze zu geben. Diese ganze Situation war eine Farce. Wieso verlängerte sie sein gelebtes Leben, anstatt ihres zu genießen? War sie nicht auch einmal an der Reihe? Schon immer wollte sie zugreifen, alles an sich reißen, verschlingen und mit offenem Mund kauen. Was hinderte sie? In dem Moment fiel ihr der Traum mit den Zündhölzern wieder ein und sie setzte sich beherzt die Spritze.
Der Kraken schaute sie überrascht aber amüsiert an. – „Du lebst nur für dich.“, flüsterte er ihr zu. Der Patient sah das Lächeln seiner Pflegerin und freute sich darüber. Langsam wurde es dunkel. Ihre Fingerspitzen und ihr Mund kribbelten vertraut. Genüsslich leckte sie sich über die Lippen. Ihre Beine wurden leicht. Sie schaltete dem Kraken noch den Fernseher ein, taumelte in die Küche und sank auf die Küchenbank. Aus der Ferne hörte sie das Lied Lets get it on von Marvin Gaye. Oder war das eine Sirene? Lustvoll summte sie die Melodie mit, wankte, hielt sich an der Tischdecke fest, riss sie runter, und mit einem dumpfen Klirren landeten der Rhabarberkuchen, das Kaffeegeschirr und sie weich auf dem Küchenboden. Sie sah zu, wie ein paar Pistazien an ihr vorbei kullerten und ließ lächelnd die Tischdecke los.
Marina Thomas promoviert in Medienpsychologie an der Uni Wien. Sowohl wissenschaftlich als auch in ihren Geschichten geht sie Fragen rund um Gender, Sex, Macht, und Beziehungen auf den Grund.
Widmung:
Die vorkommenden Personen (Casanova, Michael Fassbender, Alec Guinness, Hans Christian Andersen, und Marvin Gaye) sind alle am 02. April geboren – wie meine Mutter, die sich zum Geburtstag eine Kurzgeschichte gewünscht hat.
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