Am Ende kreischen die Möwen doch

Aimée Goepfert für #kkl29 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“




Am Ende kreischen die Möwen doch

Es ist doch alles nur eine Vorbereitung, um einen neuen Weg gehen zu können. Ich lasse mich von dem Gedanken nicht provozieren. Viel besser, ich bin ruhig. Das ist doch viel besser, oder? Ich bleibe noch hier, um etwas anderes zu finden. Ohne das ganze Wirrwarr. Wirrwarr an Worten. Wirwarr an Gedanken.

Manche erinnern sich vielleicht noch an mich.

„Geht es dir gut?“

„Alles ist gut.“

„Ist alles gut?“

Ich sitze einfach hier und mir fehlen die Worte für meine Gedanken. – Gedanken ohne Worte. Ich versuche die ganze Zeit, etwas auf Papier zu bringen. Immer wieder werde ich durch dich rausgerissen. All das Stimmengewirr hier. Ich will doch einfach nur dazu gehören. Ich spüre Druck in mir. Ich will festhalten, wo ich mitgemacht habe im Leben. Wo ich dabei war. Wo ich überall dazu gehört habe.

Ich habe noch genug Papier zum Vollschreiben. Zum Vollschmieren.

Wir können auf einmal alles verlieren. Ich kreiere mir ein neues Outfit dafür.

Ich schreibe einfach drauf los, was kommt. Ich kann mich auf so ziemlich alles selbst konditionieren, wenn mein Belohnungssystem aktiviert wird und ich kann auch alles wieder verlernen. Ich finde es beeindruckend wie Menschen ticken.

Keine Filme mehr. – Kein Lesen.  Alles kann ich unterlassen. – Innere Unsicherheit. – Angst.

Alles streift an mir vorüber.

Der Frühstückskuchen war einfach nur lecker.

Ich müsste irgendwo leben, wo es keinen Strom gibt und das Wichtigste, so wenig Strahlung wie möglich – umzingelt werde ich hier unten überall davon.

Ich bin komplett schockiert, wie die Menschen um mich herum auf meine Gedanken reagieren. Ich muss einfach protestieren. Nächstes Jahr starte ich dann aber richtig mit meiner Auszeit.

Ich fragte dich, ob das hier das Leben ist.

Nur arbeiten hier unter den Wolken?

Gedankenblitze schießen mir nacheinander durch den Kopf. – Kann sie nicht ordnen. – Keine Ordnung in mir.  – Ein Konstrukt aus Gedanken. – Kein Flow in meinem Leben.

Das Entscheidende ist doch, genau in dieser Stimmung zu bleiben. Einfach Sein. – Senden von Energie unter den Wolken.

Und am Ende sind doch alles nur Gedanken, oder? Ich will euch weglassen können in meinem Leben. – Ich will endgültig gehen – einfach alles loslassen. Das Leben ist doch einfach nur für die Auseinandersetzung mit dem Tod da, oder? – Das ganze Leben über. Die meisten sind sich nur nicht darüber bewusst. Die Suche nach uns selbst in allen Facetten. Tod und Leben sind einfach eins. Oder sind wir alle tot? Und der Tod ist das Leben? Meine Worte könnten auch nur Zufälle für dich sein, wenn du sie liest. Jeder Gedanke – jedes Wort ein Zufall? Es könnte aber auch vielmehr ein tiefer Zusammenhang bestehen, fühle ich, vielmehr als ich denken kann.

Ich bin traurig und wünsche mir Versöhnung mit dir. So traurig, dass meine Augen bei dem Wort glitzern. Ich weiß einfach nichts über dich. Absolut gar nichts.

Es ist einfach alles zu viel für mich.

Ich tagträume und bringe doch nichts zu Papier. 

Und das Blatt bleibt weiter leer.

Ich kriege einfach keinen klaren Gedanken. Schrecklich, oder? Aber schrecklicher ist doch noch mehr die Angst davor – die Angst vor dem Gedanken. Keinen Gedanken zu haben – kein einziges Wort dafür. Alles verfliegt vor mir hier unten. Ich sehe noch, wie die beiden Mädchen vor mir ohne Unterlass Räder im Sand schlugen. Ich sehe noch vor mir, wie ich mich als Kind im Sportunterricht abquälte, das Radschlagen zu üben. Ich habe es einfach nicht hinbekommen. Die komplette Schulzeit nagte es an mir. Es konnten alle in meiner Klasse außer ich. Und du hast dir auch nichts draus gemacht. So steckte ich in meiner Gedankenwelt fest.

Ich sitze in meinem Glaskasten am Meer und schaue zu dir hoch.

„Wenn ich doch nur noch einmal die Möglichkeit bekäme, etwas anderes zu machen, was mich erfüllt.“, sagte ich immer wieder zu dir, ganz bis zum Schluss. – Bis zum endgültigen Ende. Bis dahin, wenn wieder der Anfang kommt.

Ich höre durch meine Glaswand die Möwen kreischen, so laut sind sie.

Mein Leben mit einem Wort beschrieben: Einsamkeit.

Ich bin einfach viel allein, eine Suchende all die Zeit. Nur was, was suche ich? Ich schreibe jeden Tag viel zu viele Seiten voll und das Blatt bleibt trotzdem leer. Der Himmel ist von hier unten einfach nur blau. So wurde es mir erzählt. Dass der Himmel blau ist, ein Farbklecks da oben. Und die Wolken da oben sind weiß. Das sind sie doch, oder?

Komisch. Wildes Gekleckse. Ich habe noch nie verstanden, warum ich hier unten bin und nicht da oben. Ein Hubschrauber fliegt über uns Hinterbliebene hinweg. So scheint es mir, dass wir hier unten vergessen wurden wie die Fliege im Spinnennetz.

Ich schreibe dir eine Postkarte, mit der Bitte dich bei mir zu melden. Ich will dich sehen. Meine Gedanken sind für dich wahrscheinlich Wirrwarr. Ein Gekracksel, als ob ich in der ersten Klasse in meinen Schreibübungen verharrt geblieben bin. – Die Zeit ist stehen geblieben.

Es wäre schon makaber, wenn das hier wirklich abverlangt wird. So fühlt sich doch mein einziger Gedanke für dich an, als ob wir auf einem Schießstand vor der Zielscheibe stehen würden. Und wer von uns beiden ist was? Wer zielt? Wer ist die Scheibe? – Ich warte einfach ab.

Ich muss noch so lange hier bleiben, bis ihr mich alle endlich freilasst. Gedanken. – Meine Gedanken. – Kleckse voll Wirrwarr.

Die Möwen kreischen. Sie lassen mich nicht in Ruhe. Die Wolken verschwinden. Die Sonne ist mittlerweile untergegangen. Meine Gedanken werden klarer. Und plötzlich sitze ich hier und bin ruhig. Ich schreibe endlich an dich. Ohne meine Worte lesen zu können, hinterlasse ich dir Worte –so klar, wie das Meer in der Dunkelheit für mich scheint.

Du fragtest mich einmal, was ich in den letzten drei Jahren meines Lebens tun werde.

Ich stotterte damals vor mich hin. Jetzt versuche ich mich im Schreiben, um weiter zu kommen.

In den letzten drei Jahren meines Lebens habe ich Frieden mit dir geschlossen. Ich werde langsam sterben, alles für meinen Tod vorbereiten. Ich werde mich noch intensiver als bislang mit dem Tod beschäftigen, mich immer mehr von allem Materiellen lösen, alles an Materiellem loslassen. Denn das ist doch tot, oder? Hintergrund ist, dass ich derzeit denke, dass ich wenig habe und es dann doch plötzlich unglaublich viel ist, was ich besitze, wenn ich anfange, mich damit zu beschäftigen. Ich lebe also in einer Täuschung. Am Ende ist doch alles anders. Am Ende war doch alles nur eine Illusion.

Ich träume davon, immer reisen zu können.

„Was würdest du in den letzten drei Monaten deines Lebens tun?“

In der Zeit werde ich mir eine Liste von den Personen machen, mit denen ich noch einmal sprechen möchte.

An die Ostsee möchte ich zu dem Zeitpunkt bereits zurückgekehrt sein. – In meine Heimat.

Meine Seebestattung ist organisiert. Das Geld dafür ist zusammengekratzt. Ich möchte nicht, dass Kosten für Hinterbliebene entstehen werden.

Ich beschäftige mich intensiv mit dem Hier und Jetzt. Ich lebe so gut, wie es mir möglich ist, im Hier und Jetzt.

Ich genieße, was noch in meinem Leben ist. Ich will noch einmal im Sommer bei Vollmond am Strand schlafen.

Ich beschäftige mich intensiv mit mir selbst. Ich will Menschen sehen, die auch vergessen wurden. Ich will meinen Onkel treffen, den ich als Kind nur einmal gesehen habe und dann nie wieder. Ich kann mich nur bruchstückhaft daran erinnern, dass ich als Kind einmal in seinem Haus in der Nähe vom Meer mit ihm Spaghetti gegessen habe.

„Was tust du in den letzten drei Wochen deines Lebens?“

Diese Frage stelle ich mir selbst. Ich werde nervös. Ich habe den Ort gefunden, wo ich meine letzten Tage verbringen werde. Ich gebe ein Fest in einem großen Garten und drehe einen Film. Ich trage ein schwarzes Kleid. Ich bekomme Besuch von einem mir unbekannten Mann. Er trägt schwarze Kleidung. Ich habe lange Haare bekommen. Ja, ich lasse mir die Haare wachsen. Es ist vollbracht. Es ist so gekommen, wie ich es mir immer gewünscht habe. Ich bin in den Bergen. Ich entdecke einen Wasserfall und bade mich in diesen Tagen früh am Morgen. – Fernab der digitalen Welt. Ich bin in die Natur zurückgekehrt.

„Was tust du drei Tage vor deinem Tod?“

Ich bleibe da, wo ich bin. Ich erlebe mich als Subjekt.

„Was tust du drei Stunden vor deinem Tod?“

Ich werde an die Menschen schreiben, die mich finden werden, die mich aktuell vermissen könnten. Ich werde an dich schreiben. An dich, meine Mutter. Sofern, ich es bis dahin immer noch nicht getan habe. Ich bin dankbar für mein Leben. Es zieht an mir vorüber, als ob Momente meines Lebens an mir vorbeiziehen. In der letzten Stunde genieße ich nur noch den Moment. Ich freue mich auf das Danach. Auf alles, was kommen wird. Denn es wird kommen. Das, was kommen soll, wird kommen. Gewiss.

„Was tust du drei Minuten vor deinem Tod?“

Ich höre die Möwen kreischen. Ich sage Danke mit einem Lächeln für meine Entwicklung, für mein Leben.

„Was tust du drei Sekunden vor deinem Tod?“

 Ich lasse alles los – mein Leben hier unten. Ich sage Danke und schließe gleich für immer meine Augen. Gleich hab ich‘s geschafft. Nur noch einmal die Augen öffnen. Gleich ziehe ich vorüber, über euch Wolken hinweg.




Aimée Goepfert

Die in Potsdam lebende deutsche Künstlerin spielte seit 2002 in zahlreichen Theater-, Film- und Fernsehproduktionen mit. Seit 2020 produziert sie vor wie hinter der Kamera eigene experimentelle Filme und zwei ihrer Kurzfilme liefen bereits auf internationalen Festivals. Des Weiteren widmet sie sich in ihrem Leben leidenschaftlich dem kreativen Schreiben und findet mit ihrem Monologtext „Ungeschminkt über den Wolken“ in der Anthologie „Queeres entdecken“ ihre erste Veröffentlichung.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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