Kristin Vardi für #kkl27 „Loslassen, Weglassen, Unterlassen“
An Schnapserl zum Abschied
Ich schaue mir meine Hände an. Rot an den Gelenken, weiß zwischen den Falten, etwas rau, ganz trocken, Altersflecken oder Sommersprossen sind auch da. Ich stecke sie in meine Fracktaschen, schaue mir die anderen Trauergäste an. Es ist nicht meine erste Beerdigung, man kann sagen, ich bin ein Routinier. Ich habe den Anzug an, der mir mit dem Alter an den Schultern etwas weit geworden ist. Bei der ersten Beerdigung dachte ich, na, das geht sich aus.
Bei der zweiten habe ich überlegt, ob ich einen neuen kaufe beim Herrenschneider Sturm am Stubentor, da hätte ich ihn machen lassen. Er kostet dann etwas Geld. Ich rechne immer so, jeden Tag einen Euro, also müsste ich ihn 800 Tage lang tragen. Da dachte ich, ein 80-Euro-Anzug wäre vielleicht realistischer, also habe ich keinen gekauft. Ein 80-Euro-Anzug wäre respektlos den Toten gegenüber. Wenn meine Nachbarn, Freunde, Bekannten, zuletzt sogar der Trafik-Betreiber und zwei meiner ehemaligen Schüler zu Grabe getragen werden, stehe ich am Grab, tadellos gekleidet. Ich richte mich auf wie ein junger Kadett, damit die Schultern im Anzug annähernd ausgefüllt sind und dann schaue ich.
Ich spüre eine heitere Gelassenheit. Der Tote ist nun nicht mehr da, auch ist er jetzt nicht traurig über sein Ableben. Er ist nicht mehr da, ihm tut nichts mehr weh, es zerreißt ihn keine Sehnsucht mehr, keine Erinnerung, keine Angst in der Nacht, wenn niemand mehr wach ist, außer ihm.
Ich denke an einen Satz. Ich habe ihn einmal gelesen. Ich weiß nicht mehr, wo er gestanden ist. Und als ich ihn gelesen habe, war mir nicht bewusst, dass ich immer wieder an ihn denken würde. So ist das manchmal. Man liest etwas oder erlebt etwas. Und erst in der Rückschau merkt man, dass es etwas ausgemacht hat. Dass es geblieben ist. Der Satz ging in etwa so: Gewissheit kann nur einer haben, der selbst von großer Dauer war, wie die Sterne, die Berge oder das Meer. Und die haben wiederum keine Worte, um auszusagen, was sie aus langem Bestand wissen.
Man denkt immer, ach, wenn ich erst groß bin. Ach, wenn ich erst meine große Liebe gefunden habe. Ach, wenn wir erst eine Familie sind. Ach, wenn nur die Kinder ihren rechten Weg gehen. Ach, dass es nur alles gut geht. Ach, wenn ich erst in Pension bin. Aber ach! Wenn ich erst einmal frei bin von den Erwartungen, das denke ich.
Die Erwartung ist die kleine Karotte, die man dem Esel immer ein paar Millimeter vor die Nase hält, damit er weiterläuft und dann wieder ein paar Millimeter und dann wieder, bis er am Ziel ist. Und dann denkt der Esel, ach, bin ich schon da?
Seit meiner ersten Beerdigung sind 3.782 Tage vergangen. Ich hätte damals zum Herrenausstatter Sturm gehen sollen. Aber das konnte ja keiner ahnen, dass ich alle überleben würde. Ich denke, jetzt wird es sich nicht mehr rechnen, würde ich doch noch hingehen.
Ich straffe meine Schultern, höre den Worten des Abschieds zu. Besonders ehrerbietig wird gesprochen, langsam und ernst – so wie die Glückwünsche des Direktors an die Schüler zur Matura, oder die Worte des Obersts zum Abschied aus der Militärakademie, oder wie die des Standesbeamten. Die offiziellen großen Momente empfand ich meist als Momente aufgetürmter Hilflosigkeit.
Wenn ich einmal tot bin und hier auf dem Zentralfriedhof lieg, wird nicht meine Beisetzung mein großer Moment sein. Von meiner Familie lebt niemand mehr, ich habe alle überlebt, ein paar Leute kommen aber sicher, sie werden mir Adieu sagen und auch sich selbst ein Stück Adieu sagen. Das ist ja so auf Beerdigungen, dass man versteht. Den großen Moment werden also andere haben am Tag meiner Beisetzung.
Wenn ein junges Fräulein von den Friedhofsgärtnern eines Tages an meinem Grab vorüber geht und die Blumen richtet, die der Wind zerzaust hat, einfach weil es ihr gefällt, wenn ich es schön hab oder wenn die kleinen Amseln im Frühjahr aufgeregt über die Wiese hasten und das so schnell tun, dass es ausschaut, als hätten sie kleine Räder, dann werden das meine Momente sein. Dass man einen Moment lang die Augen auftut im Leben und etwas sieht, das ist alles, finde ich.
Die Erde hat den Sarg eingeatmet, er ist zugedeckt. Die Trauernden gehen zum Tor. Dort ist ein Würstelstand. Ich nicke der Verkäuferin im Vorbeigehen zu. Sie kennt mich schon. „Na, magst an Schnapserl?“, ruft sie ganz ohne aufgetürmte Hilflosigkeit. Ich nicke noch einmal.
Kristin Vardi wurde in Riesa/Sachsen geboren und studierte in Leipzig, Berlin und Tel Aviv. Nach dem Abschluss des Studiums (MA) der Geschichtswissenschaft und einem Volontariat bei der Freien Presse in Chemnitz lebt und arbeitet sie heute in Wien. Sie ist Gewinnerin „Bester Stil“ und „Beste Prosa“ für ihre Kurzgeschichte Rock Button Motel im Deutschen Schriftstellerforum (DSFO). Veröffentlichungen von ihr liegen unter anderem in der deutschen Literaturzeitschrift Edit, dem deutschen Verlag Poetenladen, dem Literaturportal Bayern und der österreichischen Literaturzeitschrift „Literatur & Radieschen“ vor. Für 2023 erhielt sie ein Arbeitsstipendium vom Österreichischen Bundesministerium für Kultur für ihren Roman Bestseller.
Über #kkl HIER