Aufbruch

Astrid Miglar für #kkl28 „Dahinter“




Aufbruch.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, hörte er ihre Stimmen nur noch gedämpft. Schwaches Gemurmel blieb. Wie das Geräusch von Fahrzeugen einer fernen Autobahn. Nicht, dass er den Eindruck gehabt hätte, dass es jemand unmittelbar auf ihn abgesehen hatte, aber sein Stresspegel war allein durch die verschieden aussehenden Menschen derart angestiegen, dass er in die hinterste aller Toiletten geflüchtet war. All diese unterschiedlichen Stimmlagen, ihre Kleidung und Gerüche gingen ihm auf die Nerven. Hier würde ihn niemand suchen. Urinklebriger Fußboden. Abgerissenes Toilettenpapier, das schlaff und durchfeuchtet auf den Bodenfliesen klebte. Eine leere Papprolle auf ihrem Halter. Ein schäbiger Raum, den man mied. Seine Finger suchten die Rolle, strichen einmal energisch darüber, sodass sie in einer unrunden Drehung aus der Halterung hüpfte, direkt hinein ins trübe Glück des Toilettenabflusses. Kurz überlegte er, ob er den Spülknopf betätigen sollte, nur um zu sehen, ob es der Wasserstrahl schaffte, den durchweichten Karton fortzuspülen. Dann aber verließ er die Kabine, sah sich im Vorraum um und trat ans Waschbecken.

Erschöpft lehnte er seine Stirn an den Spiegel. Die Kühle der glatten Oberfläche beruhigte ihn. Der Spiegel, das einzige Ding in diesem Raum, das klinisch sauber wirkte. Verwundert betrachtete er die Oberfläche. Nicht einmal der Hauch seines fettigen Hautabdrucks war auf dem glatten Untergrund zurückgeblieben. Behutsam strich er mit dem Zeigefinger übers Glas. Für einen kurzen Moment blieb sein Fingerabdruck sichtbar. Doch wie warmer Atemhauch auf einer kühlen Oberfläche, löste sich der ovale Abdruck auf. Zurück blieb ein blitzblanker Spiegel. Er schüttelte den Kopf, hauchte erneut aufs Glas, malte standardmäßig ein Herz in die Mitte der bedampften Fläche und beobachtet, wie das Herz langsam unsichtbar wurde. Wieder hauchte er auf die Spiegeloberfläche, auf der Suche nach seiner Malkunst.

„Merkwürdig“ entfuhr ihm, denn an der zuvor bemalten Stelle befand sich kein Herz. Es war, als hätten seine Finger die Stelle niemals berührt. Prüfend legte er seine Handfläche mittig auf die Spiegelfläche. Wo sich seine Stirn zuvor Kühlung verschafft hatte, bildeten sich nun Wellen, als hätte er einen Kieselstein ins Wasser eines Teiches geworfen. Erschrocken riss er die Hand zurück, sein Herzschlag stolperte einen Extratakt. Er blickte sich fassungslos um.

„Bin ich hier bei versteckter Kamera? Was soll der Mist?“ Sein Blick glitt suchend umher, dann zurück zum Spiegel.

„Was soll der Mist?“ echote es. Die Stimme klang fremd, verführerisch. Das war auf keinen Fall das Echo seiner eigenen. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen, legte die Hand noch einmal auf den Spiegel und beobachtete fasziniert, wie sie darin versank. Dahinter wurde seine Hand von einer anderen, warmen in Empfang genommen. Finger verschränkten sich mit seinen.

Kein Quäntchen Angst war in ihm. Übermütig stieg er auf den Rand des Waschbeckens und hoffte darauf, dass es sein Gewicht tragen würde. Schließlich streckte er sich dem Spiegel entgegen, versenkte die Fingerspitze seiner freien Hand darin und betrachtete die von ihm verursachten Wellen.

Ein sanfter Ruck.

Er verschwand hinter den Spiegel.





Astrid Miglar. Schreiben bedeutet für die Oberösterreicherin aus der kleinen Gemeinde Reichraming Freude. Diese Freude teilt sie mit den Mitgliedern des literarischen Zirkels „textQuartett Steyr“, an dessen Gründung sie beteiligt war. Astrid Miglar veröffentlichte Kolumnen in Print- und Onlinemedien sowie eine Reihe literarischer Texte in Literaturzeitschriften und Anthologien. 

Interview mit Astrid Miglar HIER






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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