Sofia Hillebrenner für #kkl28 „Dahinter“
Der Bach der Freiheit
Laut und aufdringlich rauscht der Bach auf der grünen Seite. Er plätschert nicht wirklich, er rauscht und ich finde, das klingt unfassbar gut. Ich mag auch das Zwitschern der Vögel auf der anderen Seite und den Duft der Blumen und Bäume, der zu uns hinüberweht. Ein paar Jungs spielen mit einem Ball, den sie sich von der einen Seite des Baches auf die andere zuwerfen. Immer wenn der Ball ins Wasser fällt, springen sie in den Bach. Wie gerne würde ich im Bach schwimmen gehen! Ich würde mich strahlend hineinlegen und das kühle Wasser nicht verlassen, bis meine Hände und Füße so schrumpelig wie eingetrocknete Durian wären. Ich lehne meinen Kopf an den Zaun und aus irgendeinem Grund fingen meine Augen an zu tränen. Vielleicht wegen der Hitze, die ich hier in Indonesien wohl oder übel ertragen muss, oder wegen dem Staub, den Raja aufwirbelte, als sie an mir vorbeilief. Mit einem Stöhnen setzte sie sich neben mich in den Sand, rümpfte die Himmelfahrtsnase und murmelte: „Idioten.“ Damit meinte sie wohl die spielenden Kinder, die direkt vor unserer Nase im Wasser plantschten. Wütend blickte Raja durch den Zaun, zu dem plätscherndem Bach.
Sie war neidisch, genau wie ich. Neidisch darauf, dass diese Kinder auf der anderen Seite beim Bach spielen durften und wir nicht.
Ein Junge warf den Ball heftig ins Wasser und ein paar Wasserspritzer trafen uns. Genießerisch schloss die Augen und leckte einen Tropfen von meiner Lippe. Auch Raja genoss den Augenblick kurz, doch dann stand sie mit empörtem Gesicht auf und brüllte: „Spielt gefälligst woanders! Ihr nervt hier alle!“
Der Größte der Jungs lief ganz nah an den Zaun heran, sodass seine Nasenspitze Rajas fast berührte. Sie ließ sich jedoch nicht einschüchtern und hielt ihrem empörten Gesichtsausdruck stand. Wie praktisch, dass ich eine so mutige Freundin hatte.
„Gefangene …“, sagte der Junge mit einer tiefen Stimme. „Haben hier gar nichts zu sagen!“
Das traf den Nagel auf dem Kopf und mich mitten im Herzen. Gefangene waren wir. Bloß, dass keiner der in diesem Gefängnis war, etwas verbrochen hatte. Außer Indonesier zu sein. Und das war den Japanern Verbrechen genug, um uns einzusperren. Raja war von den Worten des Jungen nun so wütend, dass sie völlig die Fassung verlor: „Du vergammelter, kleiner Trottel. Du … Du Oberpflaume! Ich könnt dir so eine reinhauen!“
Er grinste erneut und lehnte die Stirn an das drahtige Gitter. „Nein. Das kannst du nicht!“, trällerte er spöttisch.
Wenn Blicke töten könnten, hätte Raja den Jungen in diesem Moment erdolcht. Doch dieser lachte nur gemein und holte etwas aus seiner Hosentasche. Es war Jambu, meine Lieblingsfrucht. Provozierend biss er hinein. Mein Magen drehte sich einmal um hundertachzig Grad und augenblicklich lief mir das Wasser im Mund zusammen, als wäre ich ein ausgehungerter, verfressener Hund. Ich erinnerte mich an den unvergesslich süßen Geschmack dieser Frucht, die ich seit mindestens zwei Jahren nicht mehr berührt hatte. Hier gab es nur widerlichen Reisbrei und die Kinder im Lager munkelten, es sei Japanerrotze.
„Hau ab!“, rief Raja und stieß heftig gegen den Drahtzaun.
„Eigentlich muss ich mir von euch ja nichts sagen lassen, aber ich wollte eh gerade gehen.“, lies uns der Junge herablassend wissen, drehte sich um und lief zurück zum Bach. Dabei rief er seinen Freunden zu: „Die Vögel in ihrem Käfig haben sich ein bisschen aufgeregt. Nichts von Bedeutung. Wir können weiterspielen!“
Und das taten sie auch.
Ich klopfte meine staubigen Hände aneinander und tätschelte Raja etwas unbeholfen den Rücken. Ihr Blick war ins Leere gerichtet und das sah ehrlichgesagt etwas gruselig aus. Dann lies sie ihren Kopf auf meine Schulter fallen und weinte. Ihr Brustkorb zuckte auf und ab, während ich ihren Kopf festhielt und über ihr strohiges, schwarzes Haar strich. „Hör auf, sonst muss ich auch heulen!“, bat ich sie mit zitternder Stimme, während sich schon die erste Träne den Weg durch die Staubschicht auf meiner Wange bahnte. Doch Raja hörte nicht auf. Und so weinten wir beide im Duett.
„Aus dem Gefängnis kann man nicht ausbrechen, denken alle. Jeder der es versucht hatte, wurde schon erwischt, bevor er überhaupt den Boden der grünen Seite betreten konnte.“, flüsterte Raja. Sie hatte mich in die Ecke unseres Schlafschuppens gezerrt und sich mit ernstem Blick vor mich gesetzt. Ihr Gesicht war unheimlich nah vor meinem, sodass ich in ihre nachtschwarzen Augen sehen musste.
„Ja, das ist nichts Neues.“, flüsterte ich zurück. Warum erzählte sie mir das? Der Blick, mit dem sie mich anstarrte und die Art, wie sie sprach, gruselten mich. Sie hatte irgendetwas vor und das konnte nichts Gutes bedeuten.
„Aber…“, Raja hob den Finger und neigte den Kopf noch mehr in meine Richtung. „Das wird sich nun ändern!“ Ihre ernste Miene verwandelte sich in ein Gangstergrinsen. Ihr wisst schon: dieses Grinsen, das die Bösewichte immer im Gesicht haben, kurz bevor sie etwas Verbotenes tun. Ich wusste, was Raja vorhatte.
„Oh nein. Nein, nein, nein, vergiss das ganz schnell wieder, denk gar nicht erst dran!“, protestierte ich etwas zu laut, sodass Raja ihre Hand auf meinen Mund presste.
„Oh doch!“, flüsterte sie. „Wir brechen aus!“
Ich schlug ihre Hand weg. „Nein, Raja! Das ist doch verrückt!“, rief ich und stand auf. „Ich mach da nicht mit! Vergiss es!“
„Psst!“, machte Raja wütend und zog mich zurück auf dem Boden. „Hör auf, so rumzubrüllen!“, zischte sie. „Und sei nicht so ein Schisser!“
Wütend funkelte ich sie an. Ich war nun mal nicht so mutig wie sie, stellte die Regeln nicht andauernd in Frage und tat nicht solche waghalsigen Dinge. Ich verstand im Gegensatz zu ihr, etwas von der Kunst des Überlebens.
Wütend verschränkte ich die Arme vor der Brust. Raja legte ihre Hände auf meine Schultern. „Suriyati…“ Ich fand es unheimlich, dass sie mich bei meinem ganzen Namen nannte. „Das schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass wir geschnappt werden.“ Sie zog die Hamsterbacken zum Lächeln nach oben und grinste breit.
„Genau. Und das ist schlimm genug, um es nicht zu tun. Sie würden uns umbringen!“
„Das würden sie nicht, wir sind Kinder. Kinder bringen sie meistens…“
„Und außerdem…“, unterbrach ich sie. „…lasse ich niemals meine Mutter hier zurück.“ Ich wollte aufstehen und gehen, aber Raja hielt mich zurück.
„Yati! Manchmal bist du echt ein Trottel! Dachtest du, wir lassen unsere Familien hier einfach im Stich? Glaubst du, so etwas würde ich tun? Wir brechen doch nur aus, um mal kurz im Bach zu baden. Danach kommen wir gleich wieder.“
„Ach so!“ Ich blickte durch das kleine Fenster in der Wand auf den Bach. Ich musste das Plätschern nicht hören und trotzdem überkam mich eine unbeschreibliche Sehnsucht. „Dann lass uns das machen!.“Entschlossen lächelte ich Raja an.
„Ja!“, jubelte sie und fiel mir fröhlich um den Hals.
„Ich wecke dich dann heute Nacht.“, flüsterte sie mir ins Ohr.
„Hast du denn einen Plan?“
„Jap.“
Vielleicht war es dumm von mir, nicht genauer nach dem Plan zu fragen. Vielleicht war es dumm von mir, überhaupt mitzumachen. Aber ich hatte keine Möglichkeit, das vorher herauszufinden, also legte ich mein Leben in die Hände meiner chaotischen, verrückten Freundin und vertraute ihr und ihrem Plan.
Es war mitten in der Nacht – der ganze Schlafschuppen schlief, als Raja mir ihren Finger in die Schulter bohrte. Ich öffnete die Augen und sofort presste sie mir ihre Hand auf meinen Mund. Sie zeigte mir mit einer auffordernden Handbewegung, dass ich ihr folgen sollte. So leise wie ein Geist schlich ich hinter ihr her, aber ich konnte nicht verhindern, dass mein Schatten durch den Raum tänzelte. Ich wusste nicht, ob ich die Vorfreude zulassen konnte, denn eigentlich war das, was wir gerade taten unfassbar waghalsig und dumm. Aber ich wollte zum Bach. Was auch immer es kostete. Und die Aussicht, gleich in ihm baden zu können, die schöne, grüne Seite zu betreten löste eine solche Freude in mir aus, dass ich die Ängste fast vergaß. Raja lief auf das einzige, winzige Fenster zu, das der Raum besaß. Es war mit einem dünnen Gitter aus Draht verschlossen, das an die Wand genagelt war. Mit einem vielsagenden Gangstergrinsen zog sie den Draht mit zwei spitzen Fingern ab, als wäre er dort nie befestigt gewesen. „Ich habe die Nägel schon gestern gelockert“, flüsterte Raja so leise, dass ich sie kaum verstand. Erstaunt sah ich ihr dabei zu, wie sie nun den Draht unter einem Haufen Schmutz vergrub. Dann zeigte sie auf das Fensterchen und verdeutlichte mir mit wilden Gebärden, dass ich hindurchklettern sollte. Das Fenster war so klein, dass kein normalgroßer Mensch je hindurch gepasst hätte. Aber wir waren ja auch keine normalgroßen Menschen. Ich konnte es nicht verleugnen: Wir waren klein und abgemagert, wie fast jeder in diesem Lager. Eigentlich nichts, worauf man stolz sein konnte, es sei denn, man wollte durch ein winziges Fenster ausbrechen. Raja bot mir ihre Hände für eine Räuberleiter an und ich stieg darauf. Ich steckte den Kopf durch das Loch und blickte geradewegs auf einen wunderschönen, klarblauen Bach. Die Dunkelheit verschluckte alles, aber der Bach schien geradezu zu leuchten und strahlte mit dem Mond darüber um die Wette. Ich wäre am liebsten in diesem Anblick versunken.
„Weiter!“, erinnerte mich Raja und gab mir einen Schubs. Ich zwängte mich immer weiter durch das Loch, doch ab meiner Hüfte ging es nicht vor und nicht zurück. „Ich komm da nicht durch!“, wimmerte ich.
Heftig schob Raja an meinen Beinen und ein Schmerz zuckte durch meinen Bauch. Nach langem Gezwänge hatte ich es geschafft und der größte Teil meines Körpers hing aus dem Fenster. Raja hielt meine Beine fest und verhinderte dadurch, dass ich kopfüber auf den Boden plumpste. Ich hörte meinen rasenden Herzschlag in meinen Ohren dröhnen. Kein Teil von mir konnte glauben, was gerade geschehen war. Ich baumelte kopfüber mitten in der Freiheit.
„Und wie sieht’s aus?“, hörte ich Raja aufgeregt flüstern.
„Ich seh nicht viel.“ Mein Kopf baumelte vor einer weißen Wand. „Lass mich noch weiter runter!“, bat ich.
Raja hielt meine Beine weiter aus dem Fenster und ich konnte mich nun mit den Händen am Boden abstützen. Sie lies mich los und ich hangelte mich etwas ungelenk die Wand hinab. Ich befand mich mitten auf der grünen Seite. In der Freiheit. Seit Ewigkeiten lebte ich hinter dem Zaun, mit meiner Mama, anderen Frauen und anderen Kindern. Seit sie damals Papa wegnahmen und uns einsperrten. Und nun, das erste Mal wieder die andere Seite zu betreten, löste unzählige, unbeschreibliche Gefühle in mir aus. Ich konnte mich bewegen, wo ich wollte. Ich war frei. Überwältigt von dem Augenblick lief ich auf den Bach zu, der sich als glitzernder, heller Strich durch die Hügellandschaft schlängelte. Ohne den Zaun davor sah der Bach noch viel schöner aus. Welten schöner.Mit immer schneller werdenden Schritten lief ich über das weiche Gras. Ich wusste nicht, wie lange ich dieses nicht mehr unter meinen Füßen gespürt hatte. Es roch auf einmal auch noch wunderbar. Nach Weite und Wasser. Ich kam dem Bach immer näher – und nichts hinderte mich daran. Mit einem Mal hörte ich Schritte hinter mir. Ich blickte mich um und sah Raja, die ebenso überwältigt und mit strahlendem Gesicht auf mich zulief. Ohne zu stoppen, als sie mich erreicht hatte, griff sie nach meiner Hand und wir rannten weiter. Das Plätschern des Baches lies mein Blut auf gleiche Weise durch meine Adern strömen und meine Füße noch schneller laufen. Ich stellte mir vor, wie es sich anfühlte, darin zu baden: Wie zarte, kühle Engelsflügel, sanft über meine Haut strichen alle Sorgen, allen Kummer abwuschen. Ja, ich musste nur in diesem Bach baden. Dann war alles gut. Meine Füße berührten das kühle Wasser. Ich spürte mein Herz im Hals schlagen und legte mich der Länge nach in den Bach. Wie ein Freund umschling mich das Wasser und ich hätte es am liebsten umarmt. Es nahm mich auf, umarmte mein Herz und ließ mich solch große Freude verspüren, dass ich am liebsten geweint hätte. Ich badete in dem Bach. Verrückt. Beseelt drehte ich mich auf den Rücken und blickte in den mit Sternen besprengkelten Himmel. Während ich schnell aus und ein atmete, bildete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht, dass sich zuvor jahrelang hinter Angst und Kummer versteckt hatte. „So fühlt sich also Freiheit an“, dachte ich. Ich streckte die Arme aus, denn ich wollte sie mit so viel Körper, wie´s nur ging, spüren. Vor mir erschien ein Gesicht. Es war Rajas. Mit nassen Haaren hatte ich sie fast nicht wiedererkannt. Das Glück schien aus ihr geradezu herauszusprudeln und übermütig bespritzte sie mich mit Wasser. Ich spritzte zurück, bis wir lachend durch den Bach liefen. Raja schubste mich von hinten, ich griff blitzschnell nach ihrem Arm und zusammen plumpsten wir ins Wasser. Dort kugelten wir umher und ich griff unter Wasser nach ein paar wunderschönen Steinen. Wir lachten und verschluckten uns, doch das machte uns nichts aus.
Auf einmal zuckten helle Lichter über unsere Köpfe. Wir blickten auf und sahen drei Soldaten, die auf und zuliefen. Das Licht ihrer Taschenlampen erhellte unsere strahlenden Gesichter. Raja und ich warfen uns Blicke zu, die von vollkommener Zufriedenheit sprachen. Beide wussten wir: Was auch immer jetzt passieren wird, es war es wert gewesen.
Sofia Hillebrenner, 2007 geboren, Deutsche Schule Dublin, spielt Cello und Oboe
- Literaturwettbewerb „LinaLit-Preis“, Kategorie Epik: 2. Preis
Veröffentlichungen
- Geschichte im Buch „Wellenreiter“ (Verlag: Edition Federleicht)
- Geschichte im „Schreib Was“ Magazin „junge Talente“
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