Falk Andreas Funke für #kkl28 „Dahinter“
Hinter dem Tunnel die Stadt am See
In der Mittagspause macht Karl Salz am Hauptbahnhof eine Entdeckung. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise zieht er auf einer festen Route seine gewohnten Bahnen: einmal quer durch den Bahnhof, über den großen Platz zum Zeitungsaushang und wieder zurück. Das hilft, den Tagesablauf zu strukturieren und die Mittagspause nicht im Büro verbringen zu müssen. Entdeckungen sind ihm auf diese Weise noch nicht widerfahren. Auch jetzt wäre er beinahe vorübergegangen, da registriert er (soeben noch aus dem Augenwinkel) neben dem Tunnel, der zu den Gleisen führt, noch einen zweiten! Gestern aber (und all die Tage und Jahre zuvor) war da noch keiner! Über Nacht gebaut? Bei der Bahngesellschaft, mit der man es hier zu tun hat, wäre das äußerst unwahrscheinlich. Er schaut auf die Uhr. Noch Zeit genug. Und so geht er in den gerade entdeckten Tunnel hinein. Kein Schild, kein Wegweiser, keine Hinweistafel zeigen an, wohin er führt.
Er führt zu einem Badesee. Menschen schwimmen darin, es herrscht – jetzt im Spätsommer – noch ein kleiner Strandbetrieb. Am Ufer spazieren Leute über die Promenade, auf der Karl nun stehen geblieben ist. Und sich wundert. Dass so nah hinter dem Bahnhof ein See existiert, war ihm unbekannt. Seine Brust glüht auf in heller Freude. Ein See! Und gleich hinter dem Bahnhof. Vom Büro aus und auch von zuhause ist das ja ein Katzensprung! Er, Karl Salz, ist doch ein Wassermensch. Besonders im Sommer. Karl Salzwassermensch, nennt er sich selbst mitunter. Am liebsten natürlich ist ihm das Meer. Meist jedoch muss er sich mit dem städtischen Freibad begnügen. Und jetzt, dieses große Gewässer, dessen Ende blau mit dem Horizont verschwimmt. Das eröffnet völlig neue Perspektiven.
Allein schon die Uferpromenade ist ein Kapitel für sich. Mondäne Gründerzeithäuser, noble Kästen, in denen sich Cafés und Casinos befinden. Karl muss lachen vor lauter Verblüffung. (Er lacht sonst selten und vor Verblüffung eigentlich nie). Dann existiert das alles hier nicht erst seit gestern. Wie konnte er nur so blind sein, so einen atemberaubenden Ort jahrzehntelang zu übersehen? Er schüttelt den Kopf und schaut auf die Uhr. Wieviel Zeit von der Mittagspause verbleibt ihm noch?
Stehengeblieben. Die Uhr hat den Dienstbetrieb eingestellt. Er schüttelt nun nicht mehr den Kopf, sondern sein Handgelenk und hält das runde Glas an sein Ohr. Kein Ticken. Nun muss er lächeln. Wie seltsam das passt: Die Gründerzeithäuser mit stuckverzierten Fassaden, die Kutsche dort hinten und die stehengebliebene Zeit. Moment, eine Kutsche? Jetzt erst fällt es ihm auf, dass hier Kutschen fahren statt Autos. Dass die Menschen gekleidet sind wie in einem Historienfilm. Herren in merkwürdig steifen Gehröcken, keiner ohne Hut, hier und da ein Zylinder, Damen in langen geschlossenen Kleidern wie man sie von Schwarzweiß-Fotografien kennt – als Urgroßmutter noch ein junges Mädchen war. Auch die Frauen tragen Hüte mit Kunstblumen und künstlichen Früchten verziert. Manche geradezu von grotesker Größe.
Es muss sich um Filmaufnahmen handeln. Aber ja! Schade eigentlich, dass Karl nun keine Zeit mehr bleibt, denn er muss zurück ins Büro. Und komisch, dass ihn hier niemand anspricht, kein Regieassistent, der ihn bittet, aus dem Bild zu gehen. Aber Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Wie auch immer: Er kann ja am Abend wiederkommen und alles noch einmal genau erkunden. Vielleicht sind dann auch die Filmaufnahmen vorbei und er, Karl Salzwassermensch, könnte baden gehen. Und danach noch dort unten am Strand liegenbleiben und lesen.
Er marschiert zurück durch den Tunnel, der ihm bis heute verborgen geblieben war, kommt wieder in der Bahnhofshalle heraus – blechern tönende Durchsagen – und von dort auf den hinteren Platz, wo die Stadt etwas schmuddelig ist und von wo es auch nicht mehr weit ist zum Dienstgebäude. Der Zufall will es, dass er gerade hier auf eine Gruppe von Arbeitskollegen trifft. Mit Hallo wir er sofort erkannt und begrüßt. Drei Männer, zwei Frauen, alle bester Laune. Ja, die Stimmung der Fünf ist fast schon ein bisschen überdreht. Als befänden sie sich auf einem Betriebsausflug und jeder hätte schon ein Fläschchen Bier getrunken. Oder auch zwei.
Aber auch Karls Laune ist jetzt im Moment nach seiner Entdeckung – seiner atemberaubenden Neuentdeckung – ähnlich euphorisch gestimmt beinahe wie alkoholisiert. Ein See gleich hinter dem neuen Bahnhofstunnel, zauberhafte Filmkulissen. Soll er? Nein, er verrät das Ungeheuerliche noch nicht. Aber er überredet die Gruppe – geheimnisvoll augenzwinkernd und in einem Tonfall, in dem man zu kleinen Kindern spricht – ihm bitte zu folgen. Er würde ihnen gerne etwas zeigen. Ja, gleich hier im Bahnhof. Augen werdet ihr machen, raunt Karl und schon ärgert er sich. Dass er Kollegen im Kollektiv duzt. Nicht sein Niveau. Ist ihm noch nie passiert. Außerdem: Ist es schlau, so eine besondere Sache, kaum hat man sie entdeckt, gleich heraus zu posaunen? Wenn es nun alles gar nicht mehr stimmt? Wenn die Zauberwelt vielleicht sogar – bitte nicht – inzwischen verschwunden sein sollte?
Doch die Fünf vom Büro scheinen seine Geheimniskrämerei ohnehin nicht sonderlich ernst zu nehmen. Dass die überhaupt etwas ernstnehmen, ist anzuzweifeln, bei der Lustigkeit, die unter ihnen herrscht. Sie folgen ihm durch den neuen Tunnel, ihre Stimmen, ihr Gelächter werden von den Tunnelwänden verstärkt, verhallt. Ihm kommt das so vor, als würde in einer Kirche laut geplappert. Unangenehm. Jetzt weiß Karl, warum er Leute dieser Art immer ein bisschen verachtet: Weil sie im Grunde ein vollkommen unpoetisches Leben führen. Keine Kraft zum Träumen. Nur Zeit und Sinn für die Banalitäten des Alltags. Im Urlaub nach Malle und ab an den Strand mit Handy und Handtuch. Im Kopf noch der Kater vom Klub mit der Schlagermusik: Atemlos durch die Nacht. Na wartet, denkt Karl, gleich werdet ihr Bauklötze staunen.
Hinter dem Tunnel: die Stadt am See. Der See muss riesig sein in seiner nachthimmelartigen Bläue. Obwohl, ein Nachthimmel kommt da nicht mit. Nein, dieses Blau erinnert Karl an dieses Schinkel`sche Bühnenbild für die Zauberflöte. Magisch. Etwas Magisches strahlen auch die Gründerzeitvillen aus – in ihrer Märchenschlossartigkeit – die Gründerzeitmenschen, deren hohe Hüte, bauschige Kleider. Bunte Fahnen knattern im Wind. Da knattert sogar ein Auto vorüber, ein Automobil mit goldener Hupe und offenem Verdeck. Der Fahrer trägt eine Lederkappe und eine Pilotenbrille. Karls Mund ist zum Lächeln geweitet, zum Lachen. So breit geweitet sind seine Lippen als wollten sie den Horizont einnehmen. What a wonderful World: Jetzt hätte er Lust, dieses Lied zu singen. Vor den Kollegen. Warum denn nicht?
Auf die Kollegenbande aber scheint das alles keinen Eindruck zu machen. Mit ein paar sparsamen Blicken nehmen sie was sich ihnen hier bietet zur Kenntnis: so so, ja ja und werden schon wieder abgelenkt von einem Filmchen, das ein Kollege auf seinem Smartphon zeigt. Sie stecken ihre Köpfe über dem Display zusammen, etwas kracht und scheppert aus dem Monitor und schon wird lauthals gelacht, die Fünf spritzen kurz auseinander, jeder biegt sich lachend zurück, die Stimme einer Kollegin überschlägt sich in einem grotesken Gekreisch.
Karl zuckt zusammen. Nicht nur wegen der plötzlichen ohrenzerschneidenden Kreischerei, nein, er ist fassungslos. Eine Welt voller Perlen und die Säue sehen sie nicht! Es ist zum Fremdschämen, jawohl. Diese Seestadt, diese Kurstadt wird offensichtlich von Menschen einer gehobenen Schicht frequentiert, Bildungsbürger: Herr Geheimrat, Frau Doktor. Und er, Karl, tritt hier mit einer solchen Rasselbande auf. Er zieht die Mundwinkel nach unten und kneift die Lippen zusammen. Soll man ihm seine Ungehaltenheit ruhig ansehen. Sollen bitte die Gehrock-Herren und die Bauschkleider tragenden Damen zur Kenntnis nehmen: Er, Karl Salz, hat mit dieser ungehobelten Truppe nichts gemein!
Allerdings scheint dieses auf- und abwandelnde Seebadpublikum keinerlei Kenntnis nehmen zu wollen von der Handy-Bande, die Karl hierhin angeschleppt hat. Kein distinguiertes Räuspern, keine fragenden oder betretenen Blicke. Ja, vielleicht sind es doch Statisten, Menschen, die keine Kleider tragen, sondern Kostüme. Als wandelten sie auf einer Opernbühne. Oder, denkt Karl, sie wandeln nicht, sie stellen ein Wandeln dar. Aber weit und breit sind keine Filmkameras zu sehen und die Menschen und Dinge, die so zu einem Set gehören.
Die Zeit! Karl hat die Zeit vergessen. Er schaut völlig sinnlos auf seine stehengebliebene Uhr. Die Mittagspause dürfte er ohnehin schon überzogen haben, aber das tun die Kollegen ja auch. Jetzt fällt ihm auf, dass da keine Kollegen mehr sind. Drei Männer, zwei Frauen: die müsste man eigentlich gendern. Wo sind sie hin? Wieder zum Tunnel und zurück? Was einerseits recht angenehm ist. Kein albernes Getue mehr an diesem so besonderen Ort. Andererseits steht Karl jetzt alleine da mit seiner Pausenüberzieherei. Er sollte den Rückweg antreten, will den Rückweg antreten, am Abend kann er ja wiederkommen, aber er findet den Rückweg nicht. Den Zugang zur Tunnelpassage, durch den er soeben gegangen ist: der ist verschwunden!
Er schreitet die Seeuferstraße auf und ab. Hastig ist sein Gehen, fahrig seine Bewegungen, nervig ist es, die stoisch langsam flanierenden Opernstatisten wie ein Slalomfahrer zu umrunden. Die Bedächtigkeit dieser Leute empfindet er nun fast als Provokation! Er rempelt einen Gehrock-Zylinder-Herrn an, doch der Angerempelte lässt sich nicht aus dem Konzept des ruhigen Spazierens bringen.
Er schlägt einen kurzen Seitenweg ein, gerät auf eine prachtvolle Großstadtallee. Barock anmutende Repräsentationsgebäude; in den Erdgeschossen edle Cafés und erlesene Geschäfte. Auch hier sind überall anachronistisch gewandete Passanten, die sich ein wenig zielstrebiger fortzubewegen scheinen als die Seeuferflaneure. Er fragt sich, ob das Wort anachronistisch hier überhaupt anwendbar ist. Aus der Zeit gefallen. Doch keiner dieser Menschen hier scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Sie passen bestens in diese Umgebung. Wenn hier einer wirken sollte wie aus der Zeit gefallen zu sein, denkt Karl, dann wäre das ich! Wie passend dazu die stehengebliebene Uhr. Auf der breiten geräuschvollen Allee verkehren Kutschen und Automobile.
Die Frage, wer hier anachronistisch ist, hilft Karl jetzt auch nicht weiter. Und eine ganz andere Frage stellt sich: Wenn er den Weg zum Bahnhof und zum Tunnel nicht wiederfindet, was dann? Muss er hierbleiben, wo er niemanden kennt, wo er weder Wohnung noch Arbeit hat? Karl verbietet es sich, in diese Richtung weiter zu denken und fasst sich ein Herz. Er wendet sich an einen Herrn, der auf ihn zukommt. Der Mann trägt ein Monokel, was ihm eine strenge Erscheinung verleiht. Wie ein preußischer Offizier aus einem Historienfilm. Es ist fast so, als würde man sich vor eine Kinoleinwand stellen und eine Filmfigur ansprechen. Verzeihung bitte, ob der Herr ihm vielleicht sagen könnte, wie man von hier zum Bahn… hof…
In einem von der Firma bezahlten Seminar hat Karl einmal den Merksatz mitgeschrieben: Man kann nicht Nicht-Kommunizieren. Das hatte ein Psychologe behauptet, während er ein aus Kästchen, Pfeilen und Wörtern bestehendes Interaktionsmodell mit quietschendem Stift auf eine Flipchart zeichnete. Sehr wissenschaftlich sah das aus. Und die eifrigsten Kollegen begannen, es abzuzeichnen. Der Mann mit dem Monokel tritt sozusagen den Gegenbeweis dieser These an. Sein einäugig-gläserner Blick behandelt Karl wie einen gleichgültigen Gegenstand. Ohne den Schritt zu verlangsamen oder auf Karls Ansprache in irgendeiner Form zu reagieren, geht der Monokelträger an Karl vorbei. Den überläuft eine Gänsehaut.
Am liebsten würde er seine Hand ausstrecken und diesen pseudopreußischen Herrn am Kragen fassen. Um ihn daran zu erinnern, dass auch Statisten auf eine freundliche Frage eine Antwort geben können. Oder kennt man auf dem Filmset oder in der Gründerzeit oder wo immer man sich hier befindet keinen Benimm? Er will aber auch nach ihm greifen, um festzustellen, ob dieser Mensch überhaupt existiert! Soll Karl ihm hinterherlaufen? Oder soll er sich einen anderen Passanten aussuchen? Die Frau dort in diesem Kleid mit den lächerlichen Rüschen, diese Kaiserin Augusta Viktoria-Imitation. Noch bevor er sich zu einer Entscheidung durchringen kann, vernimmt Karl ein vertrautes Geräusch. Nicht aus seinem Alltag ist ihm dieses Geräusch vertraut, nicht aus der Wirklichkeit, sondern aus Westernfilmen. Das heisere Pfeifen einer Dampflokomotive. Wenn der Zug in die Stadt einfährt und etwas Neues bringt. Und wo eine Lokomotive pfeift, denkt Karl, muss auch ein Bahnhof sein. Aber ja!
Er geht in die Richtung, aus der er glaubt, das Pfeifen gehört zu haben, biegt auf eine andere Prachtstraße mit mächtigen Platanen und steht unvermittelt vorm Bahnhofsgebäude. Mit bangem Herzen betritt er die große Halle. Und da sind auch die Arbeitskollegen. Ach, wie erfreulich! Sie haben schon wieder die Köpfe über dem Mobiltelefon zusammengesteckt und lachen. Ihr könnt Banausen sein wie ihr wollt, aber mit euch finde ich zurück aus dieser Verirrung. Wie froh bin ich, euch zu sehen, will Karl ihnen sagen. Aber sie wenden sich ab und gehen. Karl läuft ihnen hinterher. Moment, will er rufen, ihr könnt mich doch nicht…
Da sieht er den Tunnel. Gerade geht die erste Kollegin hinein, die anderen folgen. Karl schließt die Augen und zählt bis drei. Als er sie wieder geöffnet hat, atmet er aus. Vor Erleichterung. Er befindet sich in der Bahnhofshalle seiner Stadt. Erst vor ein paar Jahren hat man hier groß modernisiert, hat weiße Säulen in schräger Lage und leicht ineinander verdreht errichtet, einen hellen Boden verlegt und das Ganze nach Fortschritt klingend Die Mall genannt. Keine Spur mehr vom neuen Tunnel. Nur noch die Mall wie Karl sie kennt. Voller Leute ohne Kostüme, banale Alltagsmenschen mit Einkauftaschen, Rucksäcken und Mobiltelefonen. Durch die verglaste Pforte geht Karl in die Fußgängerzone seiner Stadt. Er schaut auf die Armbanduhr. Der Sekundenzeiger tickt wieder. Den Weg zurück zum Büro schafft Karl noch bequem im Rest der Mittagspause.
Falk Andreas Funke, Autor aus Wuppertal, Jahrgang 1965. Brotberuflich seit 1982 in der Arbeitsverwaltung tätig. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Seit 2001 Mitarbeiter des Satiremagazins ITALIEN, Wuppertal.
Bücher: Tier und Tor, 2004; Ballsaal für die Seele, 2010 (Gedichte, Turmhutverlag, Mellrichstadt), Krause, der Tod und das Irre Lachen, 2012 (kleine Geschichten, Verlag Thomas Tonn), Lausägefisch – Maritime Seelen 2022 (Gedichte, gemeinsam mit Jule Steinbach, Holzschnitte, Kunstbuch-Eigenverlag).
Eugen-Wolff-Literaturpreis der Fachschaft Deutsch, Christian-Albrechts-Universität Kiel, 2004. Erster Platz beim Bad Godesberger Literaturpreis, 2017.
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