Nicht den Kopf verlieren

Martin A. Völker für #kkl28 „Dahinter“




Nicht den Kopf verlieren

Du fragst mich, was sich hinter unserem Leben verbirgt. Diese Frage ist sehr leicht zu beantworten, weil die Natur nichts vor uns versteckt. Wie sollte sie auch? Sie zeigt uns alles und darf erwarten, dass wir alles sehen wollen und bereitwillig lernen, es zu sehen. Unser Sehen ist nämlich ein heikles Unterfangen. Wir blickwinkeln, aber wir sehen nicht, sind meistens sogar blind, von unserer Taubheit einmal ganz abgesehen. Bringt eine:r ein bisschen guten Willen mit, kann dieses Blickwinkeln als fokussiertes Sehen bezeichnet werden, als ein Sehen, das einem Anliegen folgt und die Vorhandenheit einer Sache annimmt, die wir dann scheinbar wirklich erkennen. Bevor du also an das Dahinter denkst, solltest du dir das Davor genau anschauen. Oder bist du eine:r von denen, die im Theater sitzen und die ganze Zeit daran denken müssen, was hinter der Bühne passiert, während auf der Bühne gespielt wird? Die Frage nach einem Dahinter ist vielleicht der Sorge geschuldet, dass irgendwer irgendwas vor dir verbirgt. Was entrückt man deinen Blicken? Gibt es ein Geheimnis, in das dich niemand einweiht? Will man dir auf diese Weise Schaden zufügen? Wenn die Frage nach dem Dahinter einen Berg anderer Fragen auftürmt, steht sie wie die Hydra vor dir. Schlägst du diesem Ungeheuer einen Kopf ab, wachsen sofort zwei nach. Gegen diese Hydra kannst du unmöglich gewinnen, und an die Hydra erinnernde vielköpfige Fragen bringen dich um den Verstand. Stelle dir vor, du öffnest die erste Matrjoschka-Puppe und findest sogar zwei neue darin, die du wiederum öffnest und … Das fokussierte Sehen verwandelt sich in ein Starren mit ständig verkürztem Abstand zu dem, was an Zahl und Kleinteiligkeit zunimmt. Trotzdem bleibt dir das Dahinter verschlossen, weil das Davor dich fesselt, dich verhöhnend fesselt, weil du es so gewollt und gemacht hast. Fordere das Davor nicht heraus, dir das Dahinter zu zeigen. Was sich dir zeigen soll, das zeigt sich dir. Was sich dir nicht zeigt, hat seinen guten Grund, im Verborgenen zu verbleiben. Habe den Mut, nicht wissen zu wollen, wie etwas funktioniert, erfreue dich daran, dass es funktioniert. Halte für möglich, dass Oberflächlichkeit eine Tugend sein kann. Oder bezieht sich deine Ausgangsfrage auf das, was nach diesem Leben im Tod uns erwartet? Für mich keine schöne Vorstellung, da ich ungern warte oder andere warten lasse. Wartet nach dem Leben im Tod etwas auf mich? Warum wartet es? Wie lange wartet es, ohne ungeduldig zu werden. Holt es mich, wenn eine gewisse Wartezeit überschritten ist? Du merkst es selbst: Die schreckliche Hydra baut sich gewaltig vor mir und dir auf. Lasse ihre Köpfe unangetastet. Wende deinen Blick ab, erlerne das Sehen und trage das alte Dichterwort im Herzen:

Verdammmich, was ist darinnen?

Kruzifix auch, was steckt dahinter?

Nicht zu ermessen mit den Sinnen!

Mag es doch sein der ewige Winter,

der eisig zähmt und lähmt den Geist,

dass du nichts mehr von allem weißt.





Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.

Interview mit Martin A. Völker HIER






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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