Abendrot

Klaus Enser-Schlag für #kkl28 „Dahinter“




Abendrot

Immer, wenn sich der Abend über das stille Land senkt, ergreift Anne ein Gefühl der Sehnsucht. Es ist die Stunde des Nachdenkens, der inneren Einkehr, in welcher sich, trotz mancher Wehmut, das Gefühl der Einsamkeit für kurze Zeit verflüchtigt.

Anne sitzt im Wohnzimmer und blickt aus einem der Fenster ihres kleinen Häuschens. Es ist umgeben von weiten Feldern und alten Bäumen, welche wie ein Schutzwall Annes kleine Welt behüten. Wenn das Abendrot die herrliche Landschaft in ein warmes Licht taucht, scheint es ihr manchmal, als könne es keinen schöneren Fleck auf dieser Erde geben. Annes Blick schweift in die Ferne. Ganz hinten, am äußersten Rand eines der Felder, erkennt sie einen kleinen Punkt. Sie weiß, was das bedeutet: Georg besucht sie heute Abend wieder. Rasch wird der Punkt größer, schon kann sie ihn ganz deutlich erkennen. Kurz darauf betritt Georg das Wohnzimmer. Er setzt sich neben Anne und ergreift stumm ihre Hand. 

Sie hatten sich vor knapp 50 Jahren auf einer Urlaubsreise kennengelernt. Georg war ein zurückhaltender, schüchterner Typ von eher unscheinbarem Äußeren. Doch er war höflich, zuvorkommend und zuverlässig. Anne hatte ihm damals nicht erzählt, dass sie zwei Jahre zuvor ihren Verlobten Andreas durch einen Unfall verloren hatte. Wie hatte sie ihn geliebt! Und nun, nachdem das Schicksal ihr so grausam mitgespielt hatte, verschloss sie die gemeinsame Zeit mit Andreas in sich wie einen kostbaren Schatz. Georg erschien ihr damals wie ein Rettungsanker, er war bodenständig und hatte als Beamter Aussicht auf eine gesicherte Zukunft. Er hielt mehrmals um Annes Hand an, bis sie ihm schließlich ihr Jawort gab. Anne versorgte, wie es damals noch sehr oft üblich war, den Haushalt, während Georg das Geld verdiente. Kinder blieben ihnen versagt. Georg war stets ein liebevoller Mann. Er nahm es gelassen hin, wenn sich Anne ihm manchmal verweigerte und bedrängte sie niemals. Anne hatte zu Beginn ihrer Ehe ein schlechtes Gewissen, weil sie noch immer an Andreas dachte und auch von ihm träumte. Doch allmählich verblasste sein Bild und Anne begriff, dass es doch sehr traumwandlerisch war, einen Toten als makelloses Ideal anzusehen. Nach ungefähr 20 Ehejahren, als Georg in seine „Midlifecrisis“ rutschte, hatte er eine kurze Affäre. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn jedes Mal, wenn er nach Hause kam und Anne kaum in die Augen schauen konnte. Irgendwann konnte er die Affäre, welche er schon beendet hatte, nicht mehr verdrängen und sagte Anne alles. In jener Nacht saßen sie lange zusammen und erzählten sich viel: von ihren Träumen und Wünschen, aber auch von den heimlichen Enttäuschungen, Trugbildern und Verletzungen in ihrer Ehe. Und sie konnten einander in die Arme nehmen und verzeihen. Die lange gemeinsame Zeit hatte sie zusammengeschweißt. Als Georg dann, nach 46 Jahren, schwer erkrankte und ein Jahr später starb, war Annes Trauer groß. In den letzten Monaten seines Lebens, als Georg schon schwer vom Krebs gezeichnet und pflegebedürftig war, umsorgte sie ihn so liebevoll, als wäre er ihr Kind. Und als Georg in Annes Armen starb, umspielte ein Lächeln seine Züge, er drückte  noch einmal dankbar Annes Hände  –  und dann war sie plötzlich allein. 

Seitdem sind drei Jahre vergangen. Und fast jeden Abend kommt Georg in Annes Phantasie zu ihr, setzt sich neben sie und hilft ihr durch die Einsamkeit, welche Anne besonders in der Abenddämmerung befällt. Doch heute ist alles irgendwie anders. Anne beginnt zu weinen und Georg streichelt ihr sanft über das weiße Haar.

„Ach Georg, es ist nicht schön, so allein zu sein“, flüstert Anne und wischt sich die Tränen aus ihrem Gesicht. „Ich vermisse Dich so“.

Georg nickt stumm und küsst sie auf die Stirn.

„Verzeih´ mir, dass ich Dir meine Liebe oft nicht so zeigen konnte, wie Du sie verdient hättest“, sagte Anne. „Und nun ist es jedes Mal so schwer für mich, wenn Du wieder gehst. Der Tag ist unendlich lang und ich kann es kaum erwarten, bis Du am Abend wieder zu mir kommst“.

„Du wirst nicht mehr alleine sein“, sagt Georg leise und ergreift Annes Hände. „Dieses Mal werde ich dich nicht verlassen – nie mehr“.

Georg schaut Anne liebevoll an. Und als er sie fest in seine Arme schließt, fühlt sich Anne befreit von all der Trauer, dem Schmerz und der Einsamkeit. Es ist ihr, als hülle sie ein warmer Mantel voller Liebe, Verständnis und Fürsorge ein.

Am nächsten Tag wird Anne von ihrer Nachbarin aufgefunden. Stumm und ergriffen steht die Frau vor der Toten. Wie friedlich und entspannt sieht Anne aus! Fast erscheint es, als umspiele ein Lächeln ihre Züge. Was sich dahinter verbirgt ist der letzte, liebevolle Gedanken Annes an Georg und die Hoffnung, mit ihm in einer anderen Welt ein neues Leben beginnen zu können, einer Welt, die manche von uns „Ewigkeit“ nennen…

Foto Pixabay





Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,

Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)

Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,

Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen

in Anthologien.

Mehr unter:

https://www.klaus-enser-schlag.com/

und

https://de.everybodywiki.com/Klaus_Enser-Schlag

Interview mit Klaus Enser-Schlag HIER






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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