Res ibi est – ubi?

Bernhard Horwatitsch für #kkl28 „Dahinter“




Res ibi est – ubi?

Das Ding ist mittlerweile allgemein bekannt. Und es hat mit seinem Erscheinen die Gesellschaft belebt. Zuvor war die Gesellschaft müde und desinteressiert. Sogar trotz all der drohenden Gefahren, oder gerade aufgrund der drohenden Gefahren wendete sich die Gesellschaft von nahezu allem ab. Das Wort „Fatigue“ war ein Modewort für alle möglichen Zeitgeisterscheinungen. Nachrichten-Fatigue, Beziehungs-Fatigue, Karriere-Fatigue, Konsum-Fatigue und viele andere. Die Müdigkeits- und Erschöpfungsmentalität der Gesellschaft fing an die Gesellschaft ökonomisch und emotional stark zu gefährden. Das Ding hat das geändert. Die Wiederbelebung und der neue Enthusiasmus der Gesellschaft zeigen bereits deutliche Anzeichen von ökonomischer und emotionaler Erholung. Kein Wunder also, wenn Skeptiker keinen guten Stand haben. Aber geht der jüngste Fall über den Studienrat Dr. Hämmerlein nicht zu weit? Ihm, dem Studienrat rutschte im Unterricht als Widerrede zu einem seiner vom Ding voller Pathos schwärmenden Schüler folgende Worte heraus: „Ach, hören Sie endlich auf, das Ding ist doch nichts.“ Der Schüler erzählte seinem Vater von dem Vorfall und dieser zeigte den Studienrat an. Das brachte Dr. Hämmerlein eine Unterlassungsklage und er verlor seinen Posten als Studienrat. Man warf ihm seitens der Schulleitung vor, den Schülern gegenüber respektlos sich geäußert zu haben und feuerte ihn kurzerhand. Dr. Hämmerlein mochte beteuern, dass es ihm nur „raus gerutscht“ war, dass er „es nicht so gemeint habe“, dass es „aus dem Kontext gegriffen sei“, er „nur einen ruhigen Unterricht führen wollte“. Doch die Kritik am Ding wog allzu schwer. Das mag ein Einzelfall sein. Doch die Stimmung drückt sich in diesem Vorfall deutlich aus. Jüngste Graffiti-Schmierereien die in Mörsbach, Bacherach und Mölln aufkamen und sich derzeit verbreiten, werden  von der Staatsanwaltschaft daher sehr ernst genommen. „Nichts ist nichts“, stand dort – alle mit der gleichen Signatur gezeichnet – an den Außenwänden öffentlicher Gebäude. Bislang konnte man noch keine Täter ermitteln. In einer Talkshow wurde für diese Vorkommnisse das Wort von den „Neonihilisten“ geprägt. Wer sind diese Neonihilisten? Eine verrückte, aber nicht ernst genommene Theorie von Prof. Stomminger lautete: Das Ding belebe die ganze Gesellschaft und daher auch Formen des Nihilismus, des Punk und des Anarchismus. Das Ding aber, so die sofortigen zahlreichen Gegenstimmen, das Ding sei nicht negativ. Das sei eine bösartige Unterstellung des Professors. Prof. Stomminger hat sich inzwischen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und war für unser Nachrichtenmagazin nicht bereit, zu antworten.

 Es ist natürlich nachvollziehbar und mehr als verständlich, dass die wieder belebte Gesellschaft sich gegen Ding-Skeptiker jeder Art wehrt. So wurde jüngst der zur Gruppe der Reminder zählende Aktivist Peter Green Opfer tätlicher Angriffe. Green vertritt eine kleine Minderheit von Leuten die das Ding nicht abstreiten, aber als mahnende Stimme gelten wollen: Wir wissen nicht was es ist. Wir wissen nicht woraus es besteht. Wir wissen nicht woher es kommt. Und wir wissen nicht warum es hier ist. Sollte es einfach wieder verschwinden! Was dann? So argumentieren die Reminder und ermahnen uns zur Vorsicht. Wir bräuchten Konzepte für die Zeit nach dem Ding. Doch diese Minderheit wird in der Öffentlichkeit sehr kritisch gesehen. Die positive Stimmung der Gesellschaft würde so wieder untergraben werden. Die Belebung und Begeisterung basiere ja auf der Tatsache, dass das Ding aufgetaucht sei. Diese so entstandene großartige Belebung der Gesellschaft gelte es mitzunehmen und nicht schon wieder – ohne Not – mit Bedenkenträgerei, Unkenruferei, ja Defätismus (das Wort fiel in letzter Zeit mehrfach gegen die Reminder) zu untergraben.

Zahlreiche Studien, Beschreibungs- und Darstellungsversuche, das Ding zu erkennen, scheiterten bislang. Ist Skepsis nicht doch angebracht? Allein die Frage ist in der aktuellen Stimmungslage nicht ungefährlich. In der Frage allein drückt sich ja noch keinerlei Skepsis aus, sondern nur die Offenheit für Optionen des Denkens. Weder Radiografische Untersuchungen mit Röntgenstrahlen, noch Lichtmikroskopie, weder Band-Passfilter-Reflektografie, noch UV-Fluoreszenzuntersuchungen,Vis-Farbspektografie, Faseranalyse, Rasterelektronenmikroskopie, oder Raman-Spektroskopie, nichts brachte Ergebnisse, die der Gesellschaft das Ding erläutern könnten. Eine inzwischen rasant gewachsene Bibliothek über das Ding ist entstanden. Längst gibt es zusätzlich metawissenschaftliche Untersuchungen und Berichte zu all den Autoren, Künstlern, Wissenschaftlern und international vernetzten Forschungszentren, die sich mit dem Ding seit seinem Erscheinen auseinander gesetzt haben. Dieser Elan, dieser Schwung, diese Tatkraft! Man könnte beinahe von einem Wunder sprechen. Man könnte das auch als eine Gesellschaft in Ekstase sehen. Euphorie bis zum Wahn? Nein. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Ding wurde die Wissenschaft in allen Disziplinen verbessert. Heilmethoden wurden entdeckt, soziale Maßnahmen ergriffen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Gesellschaft, ökologische Innovationen verbesserten das angeschlagene Klima. Eine Gesellschaft im Wandel! Das Ding darf nicht, niemals verschwinden. Es wird nicht mehr verschwinden. Auch wenn wir noch Jahrzehnte, Jahrhunderte nicht verstehen werden können, was es ist. Es ist! Die Euphorie ist berechtigt. So die Befürworter. Die kleine Minderheit der Neonihilisten und Reminder müssen – so die allgemeine Haltung, bekämpft und zurückgedrängt werden. Wehret den Anfängen, heißt es. Dabei sind sich die Neonihilisten und die Reminder untereinander alles andere als einig. Die Neonihilisten spotten über die Verblendung der Reminder „Wovor mahnen die? Das Ding ist nicht.“ und die Reminder kontern wiederum „Sind die Neonihilisten blind? Das ist gefährlich, das Ding abzustreiten“.

Das Ding ist von all dem völlig unberührt. Verschwörungstheorien, das Ding sei vom System erfunden worden, um die Gesellschaft zu manipulieren, sind – wie alle Verschwörungstheorien – viel zu kurz gedacht. Und ach, selbst wenn! Hätte das System je besseres erfinden können? Und! Wer ist überhaupt das System? Aus rein philosophischer Sicht stellt sich die Frage nach Sein oder Nicht-Sein des Dings gar nicht. Denn es wirkt, sein Wording – um es modern auszudrücken – inbegriffen. So könnte es allenfalls sein, dass das Ding sich erst in Entfaltung befindet und erst einmal voll entfaltet, wird die Wissenschaft dem Ding auch auf die Spur kommen.  Und sich dann in voller Pracht positiv auf die Gesellschaft auswirken. Wissenschaftsskeptiker wiederum – es ist natürlich auch nur eine Minderheit, die sich in der allgemeinen euphorisch geprägten Stimmung nur verdeckt aufzutreten traut – sind der Ansicht, es sollte besser nicht mehr am Ding geforscht werden. Es solle einfach gelassen werden, um seine großartige Wirkung nicht durch die Wissenschaftsgemeinde zu gefährden. Erkenntnis sei nicht immer von Vorteil, sei oft zweischneidig, wie die Spaltung des Atoms und die Entdeckung des Verbrennungsmotors ja hinlänglich bewiesen hätten. Eine Zweckentfremdung des Dings durch die Wissenschaft, durch den wissenschaftlich-militärischen Komplex solle man nicht unterschätzen.  Die positive Wirkung des Dings dürfe man nicht durch Mächte gefährden, die ihre Eigeninteressen dabei verfolgten. Vereinzelt gibt es bereits Schutzverbände des Dings. Diese – sehr vereinzelten auftretenden Äußerungen, sollen angeblich zu den „Lasst es in Ruhe Sekten“ gehören und werden derzeit vom Verfassungsschutz beobachtet.  Neomystiker die behaupten, man könne sich zum Ding selbst transformieren, sind entweder reine Spinner oder Geschäftemacher, die alchemistische Essenzen meistbietend verkaufen. Sie werden vom Verfassungsschutz nicht ernst genommen.
Andere sind der Ansicht, dass es viel zu lange dauere, dass wir Zeit, Geld und Ressourcen verschwenden würden in solchen (hier tauchte das Wort erstmals dezidiert auf), in solchen „defätistischen“ Diskursen. Das Ding, sagen andere, denen daran gelegen ist, die Gesellschaft etwas zu beruhigen, das Ding sei weder schwarz noch weiß. Das – die Offenheit des Dings – sei gerade das Geheimnis des Dings. Systemtheoretiker halten das für eine Tautologie. Das Geheimnis kann nicht selbst das Geheimnis sein, das wäre inhaltslos. Das würde dann die Position der Neonihilisten stärken.

Bis wir also überhaupt eine Ahnung bekommen vom Ding, können wir uns an der Wirkung des Dings erfreuen und die wissenschaftlichen Erkundungen des Dings parasitär zum Wohle aller nutzen. Dennoch – so der Autor vorsichtig und mit aller gebührenden Affirmation des Dings – dennoch – bedachtsam  – dürfen wir die Gesellschaft nicht spalten und sollten lernen mit den Kritikern in einen lebendigen Diskurs zu kommen. Das mag schwer sein. Aber der Autor ist überzeugt, dass das Ding ein paar Abweichler, Neonihilisten, Reminder und Skeptiker verkraften kann. Denken wir nur, wie die Gesellschaft noch vor Erscheinen des Dings am Abgrund stand und nicht einmal bereit war, in den drohenden Abgrund zu blicken. Das Wunder des Dings können wir getrost über alles stellen. Diese Stärke hat uns das Ding geschenkt. Bleiben wir positiv. All den negativen Äußerungen zum Trotz. Nehmen wir die Abweichler in unsere Mitte. Die Affirmation fällt nicht allen so leicht. Nehmen wir die Nachzügler durch Validation mit.




Bernhard Horwatitsch https://www.literaturprojekt.com/






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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