Alexander Hans Gusovius für #kkl28 „Dahinter“
Jenseits der Moore
Wir lebten lange am Rande der Moore. Eines Tages aber führte man uns mitten hinein ins riesige Sumpfgebiet, das von Myriaden von Mücken bewohnt war. Man sagte uns, dass wir an den Schwärmen selbst Schuld wären, indem wir die Moorlandschaft aus dem Gleichgewicht gebracht hätten. Dort im Sumpf erwarte uns dennoch Beständigkeit, Glück und Gesundheit: so wir es verstünden, künftig im Einklang mit der Natur zu leben. Außerdem wurde uns eine grüne Salbe mitgegeben, um Mückenstichen und Sumpffieber vorzubeugen.
Unterwegs blieben wir immer mal stecken, manche büßten dabei ihre Stiefel ein, andere versanken im Sumpf. Trotz der Salbe waren nicht wenige von uns mit Mückenstichen übersät und bekamen hohes Fieber. Einige gedachten schon wehmütig der Zeiten, als wir unsere Hütten und Herde mit gestochenem Torfmull geheizt und ihn zu guten Preisen in ferne Gebiete verkauft hatten, als wir auf entwässertem Grund immer ertragreicher Getreide angebaut und die Kühe fette Milch gegeben hatten, sodass unsere Kinder keine Rachitis mehr bekamen.
Die meisten aber glaubten fest an das, was man uns einschärfte: dass solches Gerede der Gemeinschaft schade und die verheißene Zukunft leugne. Denen erschien es recht und billig, dass man die verstieß, die mit falscher Zunge sprachen, und dass man sie abseits der Wege gurgelnd versinken ließ. Es sei bewiesen, meinten sie, welch glückliches Leben auf uns warte, und wie wirksam die Salbe uns vor Mückenstichen und schwerem Fieberverlauf schütze.
Als wir endlich inmitten des Moors anlangten, waren wir völlig entkräftet, die mitgegebenen Nahrungsmittel gingen zurneige, nur von der Salbe gab es genug. Wir bauten uns Schilfhütten, um die herum ein hoher Zaun errichtet wurde, hinter den man gelangte, wenn man zur Moorarbeit eingeteilt war, um Torfziegel zu stechen wie in alter Zeit. Es fiel niemandem leicht, das vorgegebene Pensum zu erfüllen, wir bekamen wenig zu essen; auch ließ man uns nur wenig Torf, um unsere undichten Hütten zu heizen. Das Gros wurde abtransportiert, wir erfuhren nicht, wohin.
Immer noch raffte das Mückenfieber einige von uns dahin, wir wagten nicht, darüber zu sprechen, um nicht als Leugner zu gelten und verstoßen zu werden. Unterdessen fiel auf, dass wenige, die heimlich der Salbe ferngeblieben waren, viel seltener Fieber bekamen. Gerade sie seien, hieß es jedoch, von höchster Gefahr für die Gemeinschaft, denn eben diese Unbelehrbaren gäben das Fieber weiter. Und so wurde beschlossen, auch sie aus der Gemeinschaft zu entfernen.
Sechs von uns, drei Frauen und drei Männer, führte man gebunden fort und warf sie weit jenseits des Zauns in den Morast, da, wo man die Leugner und toten Gesalbten zu entsorgen pflegte. Einer neben dem anderen wurden wir langsam eingesogen. Als wir bis zu den Schultern versunken waren und zu schreien oder zu beten begannen, ließ man uns allein. Bald darauf, der Schlamm erreichte bereits die Münder, fühlten wir aber festen Grund unter den Füßen. Wir standen, wie uns klar wurde, auf den zu Haufen angewachsenen Leichen der im Moor nicht verwesenden Unbelehrbaren und Leugner. So retteten sie unser ungesalbtes Leben, und wir verließen das Moor auf gewundenen Pfaden.
Auf unseren weiteren Fluchtwegen kamen wir an vielen von Zäunen umhegten Siedlungen vorbei, nahe genug, um zu sehen, wie heruntergekommen die Menschen darin lebten, die nur zur Feldarbeit hinter die Zäune geführt wurden. Es schien solche Elendsquartiere inzwischen überall zu geben. In einiger Entfernung, außer Sichtweite, trafen wir jeweils auf eine Ansammlung gepflegter Torfziegelhäuser, von Sicherheitskräften bewacht, in deren prachtvoll blühenden Gärten zornige Kinder spielten. Aufseherinnen gaben lächelnd acht auf die rotwangigen kleinen Dämonen.
Wir sahen zu, dass wir unbemerkt blieben, während wir Lebensmittelreste aus Kompostmieten hinter den Häusern stahlen, und waren noch lange weiter auf der Flucht, immer in der Hoffnung, in ferneren Landstrichen andere Verhältnisse vorzufinden. Das war jedoch nie der Fall, so dass wir uns schließlich in den Wäldern des Nordens Erdhöhlen gruben und von Pilzen und Beeren und der heimlichen Jagd auf Kleinwild lebten, mithilfe von dressierten Füchsen. Hier begegneten wir eines Tages Schicksalsgenossen, die aus dem Süden kamen und dort von Aufständen gehört hatten. Wir taten uns zusammen und nahmen, als die Aufstände sich nach Norden fortpflanzten, daran teil.
Seither haben die Lande sich etwas beruhigt, doch ist unser einstmals gefügtes Leben noch immer aus dem Tritt; zu viele fanden als Leugner oder Gesalbte den leiblichen oder seelischen Tod und fehlen nun bei der Wiedergewinnung tätiger Freiheit, die in den Köpfen und Herzen kaum Widerhall mehr findet. Fahl sind die Gesichter, verhangen die Augen, unendlich müde die Herzen. Nachwuchs wird in dieser Welt eher selten gezeugt, ausgenommen von Ungesalbten, deren Fruchtbarkeit jedes Maß übersteigt. Bis die neuen Kinder mit ihrem ernsten, wissenden Blick, der ihnen allen gemeinsam ist und förmlich angeboren scheint, den Grundstamm einer blühenden, anderen Welt bilden können, wird aber nicht mehr viel Zeit vergehen.
Alexander Hans Gusovius

Geboren 1957 im Weserbergland, aufgewachsen in Osthessen, Studium Germanistik, Romanistik, Philosophie in Freiburg und Berlin, infolge der wissenschaftlichen Unvereinbarkeit eigener Denkansätze ohne Abschluss, seit 1986 freier Dichter und Denker, diverse Berater- und Hilfstätigkeiten, u.a. als Bundesliga-Chronist, Kurierfahrer und in der Hochbegabtenförderung. Ab 2004 in Bonn, diverse Artikel in Die WELT, Maxim, Schweizer Monat, NOVO argumente u.a. Seit 2010 in der Kurpfalz. Verheiratet mit der Schauspielerin Suzan Amir-Gusovius. Grundüberzeugung: Geist und Gefühl stellen keinen Widerspruch dar, Intellekt ist nichts anderes als eine hochspezifizierte Art von Gefühl – die überein zu bringen ungeahnte Kräfte weckt.
Bücher (Auswahl):
Der Außergewöhnliche Mensch. Genie, Talent, Hochbegabung im 21. Jahrhundert. Tectum 2004.
Dicki Zimmertanne. Roman für Kinder und Erwachsene. edition azimi 2010.
111 Gründe, 1899 Hoffenheim zu lieben. Schwarzkopf und Schwarzkopf 2015.
Reise nach Italien. Roman. edition azimi 2017.
Über #kkl HIER
Sehr plastisch und drastisch geschrieben. Ich fühlte die widerlichen Mückenstiche überall. Und dieser Morast! Er ist wirklich schon überall. Man kann es spüren und jeden Tag in der Zeitung lesen.
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