Rebecca Wamwakidi für #kkl28 „Dahinter“
Überschwemmung
Du fragst mich, was los sei und ich spüre den Riegel, der sich vor meinen Mund schieben will. Etwas blockiert meine Stimme und ich frage mich, was es ist und weiß im nächsten Moment sofort, dass es nur meine Angst sein kann.
Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll. Ich blicke im Raum umher, als würde in irgendeiner Ecke, irgendwo an der Wand geschrieben stehen, was ich sagen könnte. Ich suche in meinem inneren Wörterbuch nach den richtigen Wörtern. Nach solchen, die nicht furchteinflößend sind, die nicht beunruhigen, die nicht missverstanden werden können.
Das Buch ist voll mit etlichen Wörtern, aber keines ist dabei, das ich mich auszusprechen wage. Sie sind zu dunkel, zu düster, zu beängstigend, zu dramatisch, zu intensiv. Ich blättere und blättere und ich komme der letzten Seite des Buches immer näher. Mein Puls rast, mir treten Schweißperlen auf die Stirn, meine Finger beginnen zu zittern. Immer hastiger wühle ich mich durch die Seiten, werde panisch, werde wütend, werde unvorsichtig. Die Seiten knicken und bekommen kleine Risse.
Es brodelt in mir. Ich würde das Buch am liebsten auf einem Scheiterhaufen verbrennen, bis jede einzelne Seite, jedes einzelne Wort zu Rauch und Asche geworden ist. Bis keines mehr davon in meinem Vokabular existiert. Aber ich weiß, dass das unmöglich ist, weil es die einzige Sprache ist, die ich beherrsche.
Das hier ist mein Wortschatz. Ohne ihn wüsste ich nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Er umfasst alles, was ich denke, fühle, bin. Ohne ihn kann ich mich nicht erklären. Ohne ihn habe ich keine Persönlichkeit mehr. Er ist alles, was mich ausmacht.
Ich bin auf der letzten Seite angekommen und habe immer noch nichts gesagt. Du wartest immer noch auf eine Antwort. Verzweifelt kaue ich auf meiner Lippe, meine Augen irren umher, meine Gedanken überschlagen sich. Ich kann nicht sagen, was los ist. Es ist lächerlich. Es ist erbärmlich. Ich schäme mich für das, was ich denke. Ich sollte es nicht denken. Ich sollte es nicht immer noch denken.
Auch wenn ich es nicht ausgesprochen habe, kennst du mich mittlerweile so gut, dass du weißt, was gerade in meinem Kopf passiert. Du versicherst mir, dass ich dir alles sagen kann und du vielleicht keine Lösung für mich hast, du aber für mich da bist und mir zuhörst.
Ich weiß das. Ich wertschätze das. Ich bin dankbar dafür. Auch wenn ich mir wünsche, dass diese Gewissheit es leichter machen würde, macht es das nicht leichter. Es ändert nichts an der Tatsache, dass in meinem Wörterbuch keine neuen Wörter auftauchen.
Wie jedes Mal stehe ich vor einem Dilemma. Ich weiß, was passieren wird, weil es jedes Mal passiert. Ich nehme die Wörter, die ich habe – denn was bleibt mir anderes übrig? – und sie wandern geradewegs in dein Wörterbuch. Dein so reines, vorzeigemäßiges, ordentlich geführtes Wörterbuch und bringen es durcheinander. Du nimmst meine ganzen hässlichen, düsteren Worte auf und sie liegen zwischen deinen schönen Wörtern. Fehl am Platz. Sie ruinieren alles, die komplette Seite.
Und jedes Mal, nachdem ich meine Wörter ausgesprochen habe und sie bei dir wiedersehe, will ich die Seite in deinem Wörterbuch nehmen und sie rausreißen. Rückgängig machen, was ich dir aufgeladen habe. Entfernen, was dein Wörterbuch so beschmutzt und befleckt.
Du sagst, du wirst zuhören, aber du kannst nicht bloß zuhören. Du kannst es nicht an dir abperlen lassen, weil es dich zu sehr mitnimmt. Weil ich dir zu viel bedeute.
Einerseits bin ich so froh, dass ich dir so wichtig bin. Mein Herz fühlt sich sicher bei dir. Aufgehoben. Beschützt. Es weiß, dass es immer behutsam behandelt wird, als sei es ein wertvoller, unersetzlicher, einzigartiger Schatz. Dann wiederum wünsche ich mir manchmal, es würde dich nicht so sehr mitnehmen und du könntest einfach nur zuhören. Aber du wirst mitgerissen. Jedes Mal.
Wenn du mich darum bittest, dir zu sagen, was los ist, will ich dich vor allem bewahren, was sich in mir anstaut. Aber ich bringe es nicht über mich, dich auszuschließen. Ich kann dir deine Bitte nicht ausschlagen. Ich kann mich deinen flehenden Augen nicht widersetzen, in denen in aller Deutlichkeit geschrieben steht, dass es in deiner Verantwortung liegt, mit dem umzugehen, was ich dir sagen werde.
Aber ich glaube das nicht. Ich glaube, es ist meine Verantwortung. Ich kann dafür sorgen, dass ich dich mit meiner Traurigkeit anstecke oder ich kann dafür sorgen, dass du nichts davon erfährst.
Doch du wirst grübeln, dir Sorgen machen, darüber nachdenken und dir Schlimmes ausmalen. Du wirst verletzt sein, dass ich dich im Dunklen tappen lasse, dass ich alleine mit diesen schwarzen Gedanken bleiben möchte, dass ich dich mit all deinen unbeantworteten Fragen alleine lasse. Auch das möchte ich nicht.
Egal, wie lange ich darüber nachdenke und die Möglichkeiten, die ich habe, abwäge, komme ich zu keinem Ergebnis, das mich zufriedenstellt. Egal, was ich tue, die Traurigkeit wird zu dir herüberschwappen und ich werde es nicht aufhalten können.
Mit jedem unbehaglichen Gefühl, das aufkommt, drehe ich den Wasserhahn in mir fester zu, um ja nichts aus mir herausfließen zu lassen. Damit auch ja keiner einen Tropfen davon abbekommt. Niemand soll in meine Pfützen laufen und darauf ausrutschen. Niemand soll hineintreten und nasse Abdrücke auf seinem eigenen Weg hinterlassen.
Das Meer voller Dunkelheit muss in mir verschlossen bleiben. Ich bin ein Stausee voller Selbstzweifel und furchtbarer Gedanken. Ich schwimme darin und egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich finde das Ufer nicht. Ich schwimme gen Norden und komme nicht an. Ich wende mich gen Osten und noch immer ist kein Land in Sicht. Ich suche das Ende im Süden, aber das Wasser ist endlos und meine Beine sind schwer, meine Arme kraftlos. Ich brauche nicht Richtung Westen schwimmen, denn ich weiß, dass auch hier nur Wasser zu sehen sein wird. Kilometerweit.
So viel Wasser, so viel Traurigkeit. Eine Flut, die so viel unter Wasser setzen kann. Die so eine Kraft besitzt, mit der ganze Städte überschwemmt werden können. So viele Menschen können ihr Zuhause verlieren, ihre Sicherheit, ihre Zukunft, ihre Existenz. Wegen meiner Flut. Wegen meinen Gefühlen.
Mit meinen eiskalten, zittrigen Händen drehe ich den Wasserhahn panisch zu, obwohl er bereits fest verschlossen ist. Es reicht aus, wenn ich in der Traurigkeit ertrinke. Niemand sonst soll Schaden nehmen.
Aber dein Blick, deine Worte, deine Liebe stellen alles auf den Kopf. Mein Vorhaben, meine Entschlossenheit, mein Schweigen. Du weißt von dem See in mir. Du willst meine kleine Insel sein. Die Insel, auf die ich atemlos zusteuere, um endlich wieder nach Luft schnappen zu können. Um endlich wieder meine Arme und Beine zu spüren. Du willst der Rettungsring sein, der mich über Wasser hält, zumindest für einen kurzen Moment. Denn du kannst mich nicht für immer halten. Du willst für ein paar Minuten den Stöpsel ziehen, der irgendwo in der dunklen Tiefe des Sees auf dem Grund sein muss, den ich aber unmöglich erreichen kann. Die Menge an Sauerstoff, die in meine Lungen passt, würde niemals ausreichen, um bis ganz nach unten zu tauchen.
Aber dafür muss ich dich reinlassen. Und weil du eh von all der Traurigkeit in mir weißt, was für einen Unterschied macht es dann schon, wenn ich dich mitnehme? Du möchtest es so. Trotz allem werde ich den Gedanken nicht los, dass ich dir etwas aufbürde, von dem du keine Vorstellung hast. Von dem du nicht beurteilen kannst, ob du es hören willst. Es wird ein Teil von dir werden. Du wirst nass werden und irgendwann wirst du trocknen, aber es sickert in dich hinein. Wie Salzwasser trocknet es deine Haut aus und sie juckt und brennt. Mein trauriges Meer entzieht deiner Haut das Wasser, das sie zum Leben braucht.
Weißt du das? Ist es dir egal? Was denkst du über mich, wenn es dir bewusstwird? Wirst du dich vor mir in Acht nehmen? Wirst du vor meinem Meer davonlaufen?
Aber meine Traurigkeit ist kurz vorm Überlaufen. Wäre sie in einem Kanister, wäre er kurz vorm Platzen. Da ist so viel Druck, dass sich der Drehverschluss fast von selbst öffnet. Ich blicke den Wasserhahn, den ich immer so sorgfältig zudrehe, ahnungslos an und weiß einfach nicht, was ich tun soll.
Dann – ein Blick zu lange in deine Augen – und ich halte es nicht mehr aus, diese Spannung, diesen Druck, diese Zerrissenheit. Das Meer läuft über, tritt in meine Augen. Ohne es zu merken, löse ich den Wasserhahn und nehme es erst wahr, als das Wasser aus meinem Wasserhahn schwappt. Es läuft über meine Wangen, direkt in dein Herz.
Wie befürchtet fließt alles von mir in dein Becken und du schwimmst in meiner Traurigkeit. Die schwarzen Tropfen breiten sich in deinem kristallklaren Wasser aus und ziehen hässliche Kreise, die größer und größer werden.
Was habe ich getan. Entsetzt starre ich auf das Desaster, das ich angerichtet habe. Die Hässlichkeit, die ich vollbracht und die dein Meer ruiniert hat. Dein Wasser und mein Wasser vermischen sich und ich kann es nicht mehr voneinander trennen. Meine Traurigkeit vergiftet deine Reinheit. Du schwimmst in deinem eigenen Meer und wirst von meiner Welle mitgerissen, kannst dich kaum über Wasser halten. Bist so überrascht. Wolltest ihr standhalten und hast geglaubt, du würdest es schaffen. Aber du bist so irritiert von dem, was du siehst, dass dir dein Körper nicht gehorcht.
Du wolltest bloß zuhören, aber es nimmt dich mit, trägt dich fort. Ich sehe dich davongleiten und will dich greifen, aber zu schnell ziehst du zu weit fort. Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich. Hätte ich es doch bloß nicht zugelassen. Hätte ich nur den Wasserhahn noch fester zugedreht. Hätte ich doch bloß alles in mir drin behalten.
Du willst es dir nicht anmerken lassen, mit welcher Wucht dich meine Welle umgehauen hat und du kämpfst dagegen an. Es tut so weh zu sehen, wie ich verzweifelt die Hände nach dir ausstrecke und wie du dich mit aller Kraft gegen die Wassermassen stemmst, wir uns aber nicht in der Mitte treffen. Das Wasser hat uns im Griff, zieht uns nach unten, drängt uns auseinander. Wasser dringt in deine Lunge, du schluckst und wehrst dich. Dieser Anblick ist kaum auszuhalten und es bewirkt nur, dass mein Meer an Traurigkeit weiterwächst. Ich habe dich mit meiner Traurigkeit traurig gemacht. Und es macht mich umso trauriger, dass auch du jetzt traurig bist.
Und jedes Mal, wenn genau das wieder geschieht – dass du Opfer meiner Traurigkeit wirst – schwöre ich mir, dass ich es nie wieder so weit kommen lasse. Aber jedes Mal stimmst du mich um, redest mir gut zu, ermutigst mich. Jedes Mal wächst der Zwiespalt in mir, die Zerrissenheit, und letztlich hält der Wasserhahn nie dicht.
Rebecca Wamwakidi
„Ich heiße Rebecca Wamwakidi, geboren 1994, und lebe in Frankfurt am Main. Oft empfinde ich das Leben als beängstigend und überwältigend und habe im Schreiben meine Art und Weise gefunden, meine innere Gefühlswelt zu verarbeiten und meine Gedanken zu sortieren. Mein Wunsch ist es, anderen mit meinen Texten das Gefühl zu geben, dass all ihre Gefühle berechtigt sind und gefühlt werden dürfen und sie nicht alleine mit ihnen sind. Überwiegend schreibe ich autobiographische und lyrische Texte, arbeite nebenbei aber auch an meinem ersten Roman.“
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