Lukas Nichol für #kkl28 „Dahinter“
Benni
Benni saß wieder mal, da und blickte ins Leere. Er hatte grade mit seiner Mutter zusammengesessen und sie hatte ihm alles erzählt. Wie es passiert war; Was davor war; und wie es jetzt weitergehen würde. Nie hatte er auch die geringsten Erfahrungen mit einschneidenden Lebenserfahrungen machen müssen, alles war so vor sich hingeplätschert und hatte ihn in keinster Weise gestresst. Nie hatte er hinterfragt, wie etwas anders hätte sein können oder wie eine andere Lebensrealität für ihn ausgesehen hätte.
Er hatte seine Schulkarriere ohne größere Eruptionen erlitten, an die Kargheit der trüben Oberflächlichkeit seiner Mitschülerinnen gewöhnt und sie etragen und sich jeden Nachmittag den RTL Formaten ausgesetzt, um den Kopf verstummen zu lassen. Er wäre einer von den Leuten, die die durchlebte Dystopie in Orwells 1984 oder schöne neue Welt von Huxley nicht infrage gestellt hätten. Nein, noch schlimmer. Er wäre sicherlich ein probates Exempel eines „Walking Dead“-Zombies gewesen, so wenig spürte er in sich hinein. So gefangen war er in seinem schlaffen Körper. Komplett betäubt von der Außenwelt und ihren Eindrücken.
Später würde er sagen, dass selbst die Propaganda des dritten Reiches ihn gecatcht hätte aber nicht, weil er ein besonders großes Rassismuspotenzial besäße, sondern aus dem heraus, dass es sich bei ihm um eine Person handelte, die die vorgelebten Glaubenssätze gerne annahm und wenig hinterfragte. Er warf sich dabei keine größere moralische Verwerflichkeit vor, sondern war sich einfach seiner Naivität und dem fehlenden moralischen Kompass bewusst.
Desto weniger er sich Gedanken machen musste um bestimmte Sachen, fand er sich wieder auf einer leicht zu navigierenden Straße, die trotzdem voll mit ablenkenden Ausfahrten war, aber bedeutsam schwieriger, als wenn er sich noch um die verschiedenen Querelen des Lebens Gedanken machen müsste. Klare Vorgaben waren sein tägliches Brot und so fand er sich weitgehend von größeren Komplikationen verschont, im täglichen Fluss des Lebens wieder.
So saß ihm nun seine Mutter gegenüber und erzählte ihm wie sie sich jahrelang vernachlässigt gefühlt hatte und wie sie sich einfach nach einer starken Schulter gesehnt hatte, die ihr den Arbeitsalltag in der Klinik erleichtern könnte und wie allein Sie sich gelassen fühlte, wenn es darum ging Familie und Arbeitsalltag unter einen Hut zu bringen. Benni hörte zu.
Seine Mutter verfuhr dann weiter und fand sich in einer Spirale wieder, wo Sie über den Alkoholkonsum des Vaters lamentierte (Benni hielt es für normal, dass sich ältere Männer am Abend drei Flaschen Bier reinstellen) und generell war ja auch der Vater in seiner Egozentrik völlig der Malerei verfallen und hatte seiner Mutter keine Aufmerksamkeit mehr gewidmet. Benni hörte nicht mehr zu. Er blickte jetzt den Wasserfleck auf dem Eichentisch an und fragte sich zu welchen Gläsern im Küchenschrank diese Abdrücke passen könnten und wie permanent sie sein würden. Solche Sachen wie Wasserflecken fielen hier nicht untern Tisch, sondern blieben haften. Der Verfall einer jahrelangen Ehe war bis dahin nicht auf dem Tisch sichtbar, sondern wurden bis heute lediglich unter den Tisch gekehrt.
Seine Mutter fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sie schien das alles ziemlich mitzunehmen. Und sie blickte Benni erwartungsvoll an. Er senkte den Blick und strich mit dem Zeigefinger über die Spuren des Wasserglases auf dem Eichentisch.
„Wie geht’s dir Benjamin?“ Sie sagte immer Benjamin. Das klang so furchtbar dumpf und spießig fand er. Aber zumindest konnte er daran den Ruf seiner Mutter aus seiner Käseglocke heraus wahrnehmen.
„Ganz gut“
„Okay. Wenn du reden willst, dann sag einfach Bescheid mein Schatz.“ Schatz war schlimmer als Benjamin fand er.
„Kann ich in mein Zimmer gehen?“
„Aber sicher. Wir sehen uns morgen zum Frühstück! Gute Nacht!“
„Jo. Dir auch gute Nacht Mama.“
„Schlaf gut!“
„Jo du auch!“
Benni ging mit gesenktem Blick die Treppe hoch. Schritt für Schritt. Zog seine Hose aus und legte sich auf sein Bett. „Erstmal Avatar ballern“ dachte er sich. Avatar war die leichte Unterhaltung, die er jetzt brauchte, sonst hing er auf Tiktok oder Insta ab, um sich zu betäuben, aber letztlich brauchte er wahrscheinlich den absoluten Komfort vom „Herr Der Elemente Aang“, der sich mit dem Feuerreich und dem Wasserreich auseinandersetzte und dabei eine Leichtigkeit ausstrahlte die ihm über die Jahre seiner „pubertären Phase“ verloren hatte.
Heute fühlte sich das Dumpfe auch anders an als sonst, sein Körper hatte schon irgendwie verstanden, dass er sich jetzt wohl oder übel mit höherliegenden Problemen auseinandersetzen musste, als wie er seine Probleme verstreichen lassen könnte. Aber natürlich blieb das nach wie vor die höchste Priorität. Halb angezogen und mit der rechten Hand in seiner Boxershorts schlief er ein.
Am nächsten Morgen wurde er von lautem Geschrei im Erdgeschoss wach gemacht. „Ach stimmt da war ja was“ dachte er sich. Schlüpfte in seine Sneaker, um runterzugehen. Das Haus war vollständig mit Teppichboden ausgelegt, über den seine älteren Geschwister sich immer aufregten, aber er fands eigentlich ganz gut, weil der aus allem die Geräuschkulisse herausnahm.
Als seine Eltern erkannten, dass er ins Esszimmer geschlichen kam, verstummten Sie sofort. Das war ihm ganz recht. Für seinen Geschmack wurde eh viel zu wenig geschwiegen im Elternhaus.
„Gut geschlafen?“
War ja klar.
„Ja ganz gut“ antwortete er kurzangebunden.
„Was hast du heute in der Schule?“ fragte sein Vater.
„Mathe glaub ich“
„Ach das magst du doch ganz gerne.“
„Ja stimmt“ Benni hatte letzte Woche ein mangelhaft zurückbekommen von seiner Mathelehrerin. Seine Eltern hatten wohl noch nicht davon erfahren umso besser noch etwas, was man aufschieben konnte.
„Benni mag gar kein Mathe“ Seine Mutter fands gar nicht witzig, wie Thomas ihr wiedermal den „Mental Load“ präsentierte der ihren Frontalkortex bedrückte.
„Ist ja klar, dass du wieder versuchst meinen Sohn von mir zu distanzieren, Merit.“
„Nee ist echt so Thomas. Ich kann Mathe echt nicht ab.“ Sein Vater verstummte. Und Benni fokussierte wieder den Wasserabdruck. Die Ränder waren klar ersichtlich ein perfekter Kreis der in sich selbst endete. Und der natürlich seine Ursache im abgestellten Glas wiederfand. Was muss gegeben sein, dass sich jemand in einem Kreislauf wiederfindet, aus dem es kein Entkommen gab. Auch Benni würde kein Entkommen finden aus der Situation. Seine Eltern würden sich in naher Zukunft trennen. Darin bestand kein Zweifel. Wie der Wasserabdruck der lediglich die Spur, der Rückstand eines nassen Glases war. Würde Benni auch irgendwann ein Rückstand bleiben? Würden Leute sich an seine Spuren erinnern, wenn Sie in hundert Jahren seinen Namen läsen?
„Ich bin Lukas Nichol und 26 Jahre alt. Ich habe oftmals das Gefühl, dass ich mich selbst nicht so spüre wie man sich spüren sollte und führe auch einiges auf die Trennung meiner Eltern zurück als ich 14 Jahre alt war. Ich fühle mich mit „Benni“ ein Stück weit verbunden. Befinde mich derzeit im Lehramtstudium mit der Fächerkombi Englisch und Geschichte an der Uni Bonn und schreibe seit 2020 Kurzgeschichten.
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