Hinter der Tür

Bettina Schneider für #kkl28 „Dahinter“




Hinter der Tür

„Und jetzt: Licht aus!“

Die Stimme unseres ambitionierten Reiseleiters Miguel hallt wie eine Kampfansage durch die Höhle. Sofort erlöschen die elektrischen Lichter. Die Dunkelheit fällt auf unsere Gruppe wie eine schwarze Decke.

Drei Minuten zuvor standen wir im lichten Schatten einer Steineiche vor einer unspektakulären Metalltür, die in den Hügel zu führen schien, und witzelten darüber, was sich wohl dahinter verbarg. Auf die Idee, es könne sich um eine Höhle handeln, ist niemand von uns gekommen.

Nichts, rein gar nichts, sehe ich. Hier unten herrscht absolute Finsternis. Von der Heiterkeit des Frühlings — knallblauer Himmel, Sonnenschein, Blütenteppiche und zwitschernde Vögel —, ist nichts zu spüren. Die Höhle trotzt wahrscheinlich jeder Jahreszeit, denke ich. 

Für heute hat Miguel uns etwas besonders Beeindruckendes angekündigt. Nicht, dass es bisher daran gemangelt hätte: Er versteht es hervorragend, uns Sehenswürdigkeiten auf eine Weise nahezubringen, die sich von den üblichen Angeboten auf Reisen unterscheidet. Jedes Mal ist es ein Griff in die Wundertüte. Staunen und Überraschung garantiert. Zu Gast bei einer Familie, deren palastartiges Haus Jahrhunderte aufregender Familien- und Stadtgeschichte erzählte, eine Vollmondwanderung, die zu einer steinzeitlichen Kultstätte führte. Die Eindrücke, die Miguel uns vermittelt, sind speziell und bleibend, soviel steht fest.

Niemand spricht, eine Vorgabe von Miguel, die Anwesenheit der anderen spüre ich nur. Laut knurrt ein Magen. Ein seltsames Gefühl beschleicht mich. Obwohl meine Augen sich längst an die Dunkelheit gewöhnt haben müssten, kann ich nicht einen winzigen Hauch von Licht ausmachen. Dabei lechzt mein Sehsinn geradezu danach, seiner Bestimmung nachzugehen. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder. Es bleibt rabenschwarz.

Bei Miguels Unternehmungen geht es auch immer um Geduld oder, wie er es ausdrückt, darum, sich für einen Moment auf etwas einzulassen. Das erfordert Ruhe und vor allem Zeit.

Er gibt sie uns, aber manchmal übertreibt er es auch mit seinen Geduldsproben.

Die Minuten dehnen sich wie Kaugummi. Bereits jetzt fühlt sich Miguels Moment wie eine kleine Ewigkeit an. Eine Prüfung für all diejenigen, die sich normalerweise im Hamsterrad der Geschwindigkeit bewegen. Die Stille lastet auf uns. Ich höre mein Herz in der Brust hämmern, das Blut in meinen Ohren rauschen. Irgendjemand räuspert sich. Ein Reißverschluss wird zugezogen.

Wie lange noch?

Meine Gedanken beginnen zu wandern. Ich stelle mir vor, wie durch ein winziges Erdloch Tageslicht in das Innere der Höhle fällt, Staubpartikel in einer Lichtsäule tanzen. Für den Bruchteil einer Sekunde tut sich der wahnwitzige Gedanke in mir auf, was geschähe, wenn man uns unter der Erde einschließen würde. Kämen wir hier wieder raus? Meine Fantasie schlägt Kapriolen. Von irgendwoher glaube ich, ein leises Tröpfeln zu hören. Gleichzeitig nehme ich den Geruch von Feuchtigkeit wahr. Schärfen sich die anderen Sinne, wenn es nichts zu sehen gibt? Oder spielen sie Streiche? Fröstelnd ziehe ich meine Strickjacke fester um mich. Deutlich kühler als über der Erde ist es hier unten.

Als sich ein Streichholz entzündet, gleicht dies nach der Stille einer Miniexplosion. Mein Blick krallt sich an der kleinen Flamme des Zündholzes fest. Miguels Körper wirft einen unförmigen Schatten an eine der Felswände. Nachdem unser Reiseleiter kleine Laternen mit Kerzen aus seinem Rucksack gezaubert und angezündet hat, eine für jeden von uns, taucht die Umgebung immer mehr aus dem Dunkel auf.

Der gelüftete schwarze Vorhang gibt nun die Bühne für den großen Auftritt frei. Die Überraschung ist Miguel gelungen. Das goldene Kerzenlicht enthüllt die Höhle noch einmal aufs Neue. Ein ockerfarbenes Gewölbe, das Wärme und Geborgenheit ausstrahlt. Das gedämpfte Licht hebt Konturen hervor, wirft sanfte Schatten, die Höhle hat an räumlicher Tiefe gewonnen.

Ich bin beeindruckt.

Meine Augen tasten die verschiedenfarbigen Gesteinsschichten ab, Tropfsteine sehe ich, herabsickernde Nässe glänzen, ich entdecke Gänge, die sich im geheimnisvollen Dunkeln verlieren. Meine Hand berührt die Felswand neben mir. Kalt und rau, etwas porös fühlt sie sich an.

Und nun setzt sich unsere Gruppe wie eine Prozession in Bewegung, Miguel geht voraus. Langsam dringen wir in das Innere der Höhle vor, balancieren vorsichtig an Geröll vorbei, stets darauf bedacht, nicht mit dem Kopf anzuecken, oder zu stolpern, da der Boden uneben wie ein Bachbett ist.

Hinter einem mächtigen Gesteinsbrocken geht Miguel in die Hocke und deutet uns an, Gleiches zu tun. Vorsichtig nähert er seine Kerze der Felswand. Zunächst sehe ich nur eine verschwommene dunkle Farbe und denke an Gesteinsadern. Aber dann erkenne ich mehr. Einen verblassten roten Strich. Miguel fährt ihn mit dem Finger nach, es entsteht eine geschwungene Linie. Die Linie wird zu dem Umriss eines Pferdes.

Höhlenmalerei.

Das ist eine echte Überraschung …

Nach dieser unerwarteten Begegnung mit der Vorzeit ist unsere Gruppe aufgeregt wie eine Schulklasse im Zoo. Unsere Augen fliegen umher, versuchen, andere Malereien auszumachen. Doch die Lichtkegel reichen nicht weit, die Tiefen der Höhle verschwimmen im dämmrigen Licht.

Auf Miguels Kommando geht es weiter. Nach ein paar Metern bleibt er erneut stehen und nimmt wieder die gebückte Haltung ein. Wir tun es ihm nach, während unsere Augen jetzt die Umgebung abtasten, da wir nun wissen, was sich hier finden lässt. Ich bin enttäuscht, denn ich entdecke nichts. Erst als der Reiseleiter die Kerze auf einen Stein stellt und das Licht seitlich auf die gewölbte Wand vor uns fällt, gibt der Fels sein Geheimnis preis.

Mehrere Pferdeköpfe, in feine Linien in den Stein ziseliert, liegen dort vor uns.

Dieses Mal staunen wir, ohne zu sprechen. Ergriffen sind wir alle. Die Spuren der Vergangenheit strahlen etwas Majestätisches aus. Der Augenblick berührt mich. Ganz unverhofft durchflutet mich ein großartiges Gefühl.

Miguel lässt uns Zeit, bevor er zu erzählen beginnt. Auch das kann er gut. Er erzählt in einer hinreißenden Lebendigkeit, dass vor meinem geistigen Auge Szenen entstehen, als hätte ich sie selbst gesehen. Ich stelle mir eine Horde Neandertaler vor, die genau diese Steine betreten, auf Fellen hier gelagert haben. Gemütlichkeit signalisieren meine gedanklichen Bilder. Später dann gab es Menschen, die mit einem in Farbe getauchten Ast gezeichnet oder mit anderem Werkzeug Bilder in den Stein gearbeitet haben. Miguel beschreibt, wie Hirten die Höhle durch Zufall entdeckten, berichtet von der Anfangszeit der Forscher, die nacheinander verschiedene Felsmalereien und dann viel später erst diese Gravuren entdeckt haben. Etliche Male sind sie an den wahren Schätzen vorbeigelaufen.

Wir müssen uns nun von der Höhle verabschieden, sagt Miguel. Ein Licht nach dem anderen erlischt, was so schnell hintereinander passiert, als wären die Kerzen auf eine Brenndauer geeicht. In Gedanken verweile ich bei den Erzählungen, bei den Neandertalern.

Miguel gibt einen Befehl und das elektrische Licht flammt auf. Ich muss die Augen zusammenkneifen. Als ich sie wieder aufschlage, kommt es mir vor, als wäre ich durch eine Zeitschleuse gegangen. Die Höhle liegt grau und abweisend vor mir. Und dann spüre ich sie wieder ganz deutlich, die Kälte.

Wir verlassen die Höhle durch die unauffällige Tür im Hügel und stehen wieder unter blauem Himmel. Es ist, als hätte sich eine Welt hinter uns geschlossen. Unglaublich, da sind wir uns einig, was wir eben erlebt haben.




Bettina Schneider

Jahrgang 1968, lebt in Berlin, verheiratet, zwei Kinder, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit.

Sie schreibt mit Begeisterung Kurzprosa, einiges davon ist veröffentlicht.

Sie ist eine Leseratte, liebt Sonne und blauen Himmel und mag Wald-Spaziergänge.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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