Ulrike Werner für #kkl28 „Dahinter“
Im Tunnel
Seit Tagen regnete es ununterbrochen. An den Haltestellen der Schienentaxis und den autonom fahrenden Kleinbussen bildeten sich tagsüber lange Menschenschlangen. Die Frau schob sich durch die Menschentrauben, die sich an jeder Ecke, auf den Gehwegen und den Haltestellen bildeten. Ein kurzer Blick auf die Smart Watch bestätigte nochmals ihre Anfrage von vorhin. Seit Stunden reagierte die Mobilitäts App aufgrund der Auslastung der Transportmittel nicht. Sie hatte es eilig, einen der Außenbezirke noch vor dem Mittag zu erreichen. Eng getaktetes Zeitmanagement bildete einen Grundpfeiler zu ihrem Erfolg. Heute schien das Einhalten von Terminen nur schwer möglich. Bei Regen stieß die Millionenstadt an ihre Grenzen. Nichts ging mehr.
Die Frau machte deshalb auf dem Absatz kehrt und eilte mit großen Schritten zurück ins Parkhaus. Etwas unwillig entschied sie, mit ihrem veralteten Auto in den Außenbezirk zu fahren. Es verfügte noch über einen Verbrennermotor, funktionierte aber tadellos. Allerdings fehlte dem Pkw die technische Ausstattung, sich mit dem Leitsystem zu vernetzen.
Die implantierten RFID Chips im Körper der Frau und die Smart Watch halfen bei der Routenplanung nicht weiter. Es schien nur eine Lösung möglich, und schon allein der Gedanke daran, versetzte ihr Gemüt in den Zustand von Gereiztheit. In Gedanken versunken und noch unentschlossen über das weitere Vorgehen, erreichte sie das Tor zur Tiefgarage. Reflexartig hielt sie die Smart Watch davor, damit der Sensor es öffnete, dachte dabei jedoch an all die Mühe und das enorme Kapital, das es sie kostete, ein Leben im Komfort mit all den technischen Errungenschaften, die hierfür notwendig waren, führen zu können. Erleichtert und froh, nicht in Konformität und Durchschnittlichkeit, oder womöglich in Armut verbringen zu müssen, steuerte die Frau ihr Vehikel zügig in den fließenden Verkehr.
Heute, so schien es, forderte eine kleine Störung im sonst täglichen Zusammenspiel von Datengenerierung und Austausch und der Ressourcenmangel sie dazu auf, archaische Verhaltensmuster zu bedienen, um ein geplantes Ziel im Außenbezirk pünktlich zu erreichen.
Dem Instinkt folgend, gelang es ihr, sich zügig in den Verkehr einzureihen.
Dort wo sonst Kameras und Kontaktsensoren die verarbeiteten Daten in Informationssträngen zu den Schnittstellen leiteten, versuchte die Frau jetzt fieberhaft, nicht den Anschluss zum Außenbezirk zu verlieren. Anstatt, wie alle übrigen Verkehrsteilnehmer, blitzschnell und in Echtzeit über die aktuell befahrbaren Routen gelotst zu werden, konzentrierte sie sich nun darauf, ihrem Orientierungssinn zu folgen.
Ohne digitale Konnektivität und völlig unvorbereitet viel es ihr schwer, vorwärtszukommen. In diesem Moment aber blieb sie auf sich allein gestellt und konnte nur hoffen, dass es ihr gelang, den kürzesten Weg durch die verschiedenen Zonen zu finden. In der Innenstadt teilte sich der Verkehr für die arbeitende Bevölkerung in urbanisierte Gebiete. Vorbei an den Co – Working Space Zentren passierte sie den inneren Zirkel. Die Büros schienen ausgelastet, denn in jedem der Fenster tauchten Einzelwesen auf, die, vor Bildschirmen sitzend, kulturelle Events organisierten oder über unsichtbare Headsets Produkte verkauften.
Ungehindert gelangte sie weiter in den äußeren Ring. Hier beruhigte sich der Verkehr etwas, denn seine Bewohner arbeiteten von ihren Quartieren aus digital vernetzt rund um den Globus. Das soziale Leben fand hier in der Regel erst am Abend statt.
Schließlich erreichte sie mit Hilfe der grünen Ampelphase fast den Außenbezirk. Sie musste sich selber loben, denn nun war es von hier aus nur noch ein Katzensprung, bis zum Zielort. Glücklicherweise funktionierte das digitale Verkehrsleitsystem heute perfekt. Manchmal bildeten sich vorübergehend lange Schlangen. Trotz vieler Bemühungen im Sicherheits-bereich gelang es Hackern leider immer wieder, sich in Systeme einzu-schleusen. Kriminelle Banden erpressten Millionen mit Cyberattacken, die die Infrastruktur von Systemen störten oder zeitweise sogar lahmlegten. Sie bog rechts ab, bis sie schließlich über die Einbahnstraße zur Unterführung und von da über eine Ausfahrt in Richtung Außenzone gelangen sollte. Stattdessen zwang sie eine Kehre, scharf abzubremsen, weil sich vor ihr plötzlich ein Tunnel öffnete, der nicht passierbar war. Ein riesiger, schwarzer Schlund stellte sich
ihr in den Weg und beendete ohne Vorwarnung oder einen Hinweis, all ihre Bemühungen, rasch und ungehindert zum Zielort zu gelangen. Die Straße war hier zu Ende und das Wenden nicht mehr möglich.
Die Frau stellte den Motor ab und stieg langsam aus dem Fahrzeug. Sie blickte in
eine riesige Baugrube mit mehreren Tunnelöffnungen. Orangerotes, pulsierendes Licht beleuchtete einen gigantischen Hohlraum. Es drang von innen durch die Felswände in den Tunnel und erhellte mit seinem Lichtschein eine Baustelle. Um Fassung ringend stolperte die Frau weiter in den Aushub, wurde regelrecht hineingezogen. Mit jedem Schritt drang sie tiefer in das dunkle Loch, lies jede Vorsicht außer acht und begab sich damit auf ein fremdes Terrain.
Vorsichtig tastete sie sich über die aufgerissene Erde unter ihren Füssen und erreichte eine kleine Anhöhe. Von hier aus überblickte sie das Geschehen fast vollständig. Lastwagen fuhren wie von Geisterhand gelenkt tiefer in zuvor hineingesprengte Röhren. Riesige Baukräne hoben führerlos gesteuerte Lasten, drehten sich um die eigene Achse, um sie dann neben ausgehobene Gruben wieder abzustellen. Auf der rechten Seite vor ihr, in einer dunklen Ecke, befanden sich mehrere, eigens für die Baustelle errichtete Betonmischanlagen. Hinter und neben ihr öffneten sich weitere Tunnelröhren. In eine von ihnen gruben sich lautlos rotierende Schneideräder einer überdimensionierten Bohrmaschine mit dem hydraulischen Druck einer Vortriebsanlage in den Fels. Den dabei entstandenen Staub saugten Turbinen eines integrierten Schwallwerkes ab, die gleichzeitig dem Brandschutz dienten. Beim Blick in die zweite Röhre gewahrte sie eine Skulptur aus weißem Beton. Sie öffnete sich vom Stamm aus nach oben. In den Kelch fiel Licht, das von außen kommend einen sanften Glanz nach unten verbreitete. Eine zweite Kelchstütze in unmittelbarer Nähe, befand sich in der Fertigstellung, aber Schalung und Gitternetz waren noch sichtbar.
Kein Lärm drang dabei an ihr Ohr. Wie von unsichtbarer Hand gelenkt, bewegten sich eiserne Arme, rollende Räder, vibrierende Bohrhämmer, klappernde Baugerüste und rasselnde Ketten völlig lautlos und autonom. Zu hören war nur das rhythmische, dumpfe Stampfen eines Luftkissendükers, das mit dem Pulsieren des
Lichtes eine rhythmische Einheit bildete. Sonst blieb es still. Händeringend versuchte sie, eine Erklärung für das Auftauchen dieser bizarren Parallelwelt zu finden und wie sie in dieses absurde Chaos gelangen konnte. Doch ihr analytischer Verstand versagte eine zufriedenstellende Antwort. Panik stieg in ihr auf. Täuschte sie ihre Wahrnehmung und dieser Ort entsprang einer Phantasie aus ihrem tiefsten Inneren? Real erledigte sie aber ihre Geschäfte, so wie an anderen Tagen auch? Welcher Antrieb steuerte dieses groteske Phantasiegebilde aus avantgardistisch anmutenden Baumaschinen, die sich tief und tiefer in den Urgrund gruben, das Untere nach oben
kehrten, begradigten und letzte Sedimente abtransportierten?
Diese Fragen verhallten unbeantwortet irgendwo in den verzweigten Gängen des Stollenlabyrinths. In nur wenigen Minuten mutierte die Frau zu einem Häufchen Elend, das mit herabhängenden Armen und hilflos inmitten einer Grube stand, aus deren unverschuldeter Situation sie sich nicht selbst retten konnte.
Unvermittelt nahm sie aus dem Augenwickel eine rasche Bewegung wahr. In einiger Entfernung links von ihr huschte eine Gestalt zwischen Erdtürmen hin und her. War sie also doch nicht allein? Neugierig geworden, was sich dort bewegte, zog sie den Kopf ein und schlich leise und vorsichtig in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Sie wollte unbedingt der Sache auf den Grund gehen. Vielleicht fand sie hier auch Hilfe, die sie aus diesem Dilemma befreien konnte. Wachsam um sich spähend, gewahrte sie vor sich eine schmutzige Pfütze, konnte sonst aber nichts entdecken. Als sie sich umdrehte, blieb ihr fast das Herz stehen vor lauter Schreck. Vor ihr stand ein Wesen, welches sie aus listigen und lidlosen Augen abschätzend betrachtete. Den Hass, den es dabei ausstrahlte, traf die Frau unerwartet und wie ein Schlag.
Getroffen von der Wucht ihrer Empfindung wich sie zurück. Ekel kroch in ihr hoch beim Anblick der Kreatur. Vor ihr stand ein Mensch, der, so schien es zumindest, in eine Art feuchter Amphibienhülle steckte. Die Lurchenhaut umschloss den Körper vollständig. Lediglich das Gesicht war einigermaßen
menschlich, obwohl es wimpernlose Augen, eine flache Nase und schmale, verengte Lippen zu einer Fratze verzog. Die Frau spürte seine Bösartigkeit. Jetzt öffnete es auch noch sein zahnloses Maul und zischte mit heiserer Stimme: „Da staunst du,
was? Mich hier anzutreffen hättest du wohl nicht erwartet?“ Angst kroch in ihr hoch und blieb wie ein Kloß im Hals stecken. Mühsam suchte sie nach Worten, rang um jede einzelne Silbe, bis sie ihm schließlich stockend erwiderte: „Woher sollte ich dich kennen?“ Der Versuch, die Gestalt dabei mit den Augen zu fixieren, scheiterte kläglich. „Wovor hast du Angst? Bin ich dir zu nah gekommen? Ich bin es doch, dein Schatten.“ Die Worte zielten direkt in ihr Zentrum. Eiserne Worthaken krallten sich ins Innenleben, bluteten aus geschlagenen, imaginären Wunden und verkanteten sich dort in eine Mauer, hinter der die schwarze Dunkelheit herrschte. Panik stieg in
ihr auf und ergriff mehr und mehr von ihr Besitz und drängte die Frau zur Flucht. Ihr Instinkt mahnte sie, sich so schnell wie möglich aus dieser Situation zu begeben. Doch sie stand zitternd, schutzlos und ausgeliefert vor dieser prähistorischen Erscheinung, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. So wollte sie sich aber nicht geschlagen geben. Dennoch raffte sie mühsam ihren letzten Mut zusammen, unterdrückte den Ekel und blickte dem Geschöpf direkt in die
entstellte Physiognomie. „Was meinst du damit, du bist mein Schatten?“
Die feuchte, warzige Haut des Geschöpfes begann zu glänzen. Aus winzigen Drüsen sonderte es einen Schleim ab, um die Haut vor Austrocknung zu schützen. Oder zeigte es damit seine Freude über die Beachtung, die es endlich erfuhr? Sein breites Maul öffnete sich einen Spalt und gurgelte sie zischend an: „Du läufst vor mir davon, aber du kannst mir nicht entkommen oder mich besiegen. Ich bin ein Gestaltwandler und dein lebenslanger Begleiter. Geboren im Urgrund, existiere ich seit Urzeiten und bin Teil deines Seins. Niemand kommt an mir vorbei, so sehr man es sich auch wünscht. Finde dich damit ab.“ Jedes seiner Worte drang ungeschützt in sie ein und tropfte in ihre Seele. Ein undurchdringlicher Nebel, der ihr fast den Atem raubte, bemächtigte sich ihrer. Sie schloss die Augen und Tränen liefen über ihr Gesicht. Eine Flutwelle von unendlicher, tiefer Trauer bemächtigte sich ihrer und lies sie hemmungslos weinen.
Als die Tränen schließlich versiegten und sie wieder zu sich kam, saß sie allein auf einem Erdhaufen. Weit vor ihr, am Eingang zur Baugrube, zeigte sich das helle Tageslicht. Die Frau erhob sich mühsam und trottete, innerlich leer, dem Licht entgegen.

Ulrike Werner, Jahrgang 1956, lebt seit 1985 in Reutlingen, wo sie heiratete und ein Sohn geboren wurde. Als gelernte Heilerziehungspflegerin arbeitete sie dort 30 Jahre in der Behinderten Werkstatt einer großen, diakonischen Einrichtung. Nach dem Abschluss des BWL /FH Studiums und Case Managements erstellte sie in freiberuflicher Nebentätigkeit in ihrer Einzelfirma „genoson“ Marktanalysen für die Einrichtungen der Behindertenhilfe. In dieser Eigenschaft war sie auch bundesweit als Referentin und mit Messeauftritten unterwegs. Während dieser Zeit arbeitet sie ehrenamtlich in diversen Organisationen als Schriftführerin, Organisatorin für Messeauftritte, Fachpublikationen u.a. mit.
In ihrer Freizeit interessiert sie sich neben der Vorliebe des Gärtners vor allem für Mythologie, Märchensymbolik, analytische Psychologie nach C.G.Jung, und Traumanalyse. Beginnend mit der Frage …“ sind Märchen noch zeitgemäß?“… entwirft sie Kurzgeschichten, die sich inhaltlich mit der Darstellung von „verzerrter Wahrnehmung“ und Komplexität auseinandersetzen.
Das Genre der Phantastik, Cyberpunk und Gothik Novel eignet sich hierzu besonders. Durch die literarische Schilderung eines „Risses“ in der Realität, bietet dieses Genre den Ansatz, „Wirklichkeit“ in unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen. Phantastische Elemente und/oder nicht greifbare Zustände, die Komplexität als Grundbaustein von Wirklichkeit interpretieren, vermitteln dem/der Leser/in den Eindruck, vor einer Entscheidung zu stehen.
Über die Jahre entstand eine Anzahl von Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen in der Rohfassung, die nun, vertieft durch eine intensive Recherchearbeit, in verschiedenen Anthologien u.a. Veröffentlichungen einem interessierten Publikum vorgestellt werden sollen. Weiterhin dienen die Arbeiten der Vorbereitung zu einem SF Roman, der sich (kritisch) mit dem Thema KI, Bewusstsein und/oder Bewusstseinsveränderung auseinandersetzt.
Als Synonym trägt sie den Namen U.P. Iron 8, der aus dem Titel der Kurzgeschichte „Die eiserne Acht“ entstand.
Eine eigene Webseite befindet sich im Aufbau.
Content Notes
Der Text setzt sich inhaltlich mit veränderter Wahrnehmung insbesondere durch Konnektivität und Digitalisierung auseinander und stellt keine „sensiblen Inhalte“ dar.
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