Daniel Mylow für #kkl28 „Dahinter“
E I S M Ä R C H E N
Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick streifte sein Gesicht und glitt ins Leere. Er erschrak. Schneelicht tönte das Blau ihrer Augen, ein Rinnsaal aus Licht, das ihre Züge ungreifbar werden ließ, je länger er ihrem Blick standhielt. Er schlug die Augen nieder.
„Komm her“, flüsterte sie. Er stand auf, stolperte über den Eimer mit den feuchten Wickeln und fand sich zu ihren Füßen wieder. Sie setzte sich mühsam auf. Ein Buch rutschte unter ihrem Kopfkissen hervor und fiel zu Boden. Er hob es auf.
„Was ist das?“ fragte er.
„Das lege ich nachts unter mein Kopfkissen. Dann brauche ich morgens meine Träume nicht aufzuschreiben.“
Er blätterte das Buch auf. Die Seiten waren leer. Nur die Schattenschrift des künstlichen Lichts aus dem Krankenzimmer wanderte über das Papier.
„Es verschwindet“, sagte sie. „ Alles verschwindet, wenn du nicht daran glaubst.“ Ein leiser Hauch von etwas Verlorenem lag auf ihrem erstarrten Gesicht, ganz so wie in dem Augenblick, als er sie vor drei Tagen im Eis des Sees gefunden hatte.
Das Schneefeld um ihn herum erstarb im Geflüster fahlen kalten Lichts. Er spürte das berstende Eis unter seinen Füßen. Als er näher kam, konnte er sehen, wie sich ihre nackten Arme an das Eis klammerten. Mühsam hielt sie den Kopf über das Eiswasser. Sie schrie nicht. Sie sagte nichts. Es war, als warte sie auf den Tod. Auf allen Vieren war er zu ihr gekrochen. Einen Augenblick dachte er, sie wäre tot. Er packte sie an den Schultern und zerrte ihren fast leblosen Körper auf das Eis. Eine Welt von ihnen entfernt tanzten Sonnenreflexe in den kahlen Wipfeln der Bäume. Er zog ihren Körper
durch den Schnee ans Ufer. Das Mädchen schlug die Augen auf. „Kalt“, flüsterte sie fast unhörbar. Es klang wie ´Halt`.
D E R S C H R A N K
Der Himmel beschreibt einen weiten Kreis. Mein Vater sagt, immer da wo ich bin, liegt der Mittelpunkt der Erde. Seitdem er mit einer anderen Frau fortgegangen ist, wohne ich in meinem Zimmer wie in einem Sarg. Wenn ich keine Antworten mehr auf meine Fragen weiß, krieche ich in den großen roten Schrank in meinem Kinderzimmer. Knarzend schließen sich die Türen und durch einen winzigen Spalt sehe ich Staubflimmer durch die Dunkelheit irren. Dumpf verebben die Geräusche im Haus. Dort bin ich allein, bis sie mich finden und ans Licht zerren.
Auch als ein anderer Vater durch das Haus geht, habe ich mich nicht mehr an das Licht gewöhnen können. Wenn mich meine Reisen zwingen, in Hotelzimmern zu übernachten, dann krieche ich schon bald in das dunkle, holzig-warme Innere des Kleiderschranks. Ich warte, bis alle Geräusche um mich herum verstummt sind und das Licht verblasst ist. Erst dann vertraue ich mich meiner Umgebung an. Erst dann schlafe ich mit Frauen, deren Gesichter ich nicht kenne und deren Körper wie Marmelade an mir kleben. Lichtbewegt, wie die verwitterten Schnäbel großer Vögel, öffnen sich die Türen der Schränke. Rätselhaft nah sind unter meinen geschlossenen Augen die Feuer am Strand, das Unvergleichliche und Märchenhaft-Abwesende der frühen Kindheit. Vater schließt mich in den großen Schrank, wenn ich böse bin. Er schließt mich ein in meine Träume.
Wenn ich nach Hause zurückkehre, öffne ich jedes Mal die schweren Türen des roten Schranks in meinem Kinderzimmer.
Diesmal ist es ein Herbsttag und ich bin allein im Haus. Ich finde den Schrank offen. Wimmernd knarzt das Holz, als ich die Türen hinter mir zuziehe. Es ist dunkel. Ich taste nach der Vertiefung im Boden des Schranks, meinem Versteck. Meine Hand bleibt dort liegen. Der traurig-graue Rauch der Träume steigt auf.
Nachts erwache ich. Vorsichtig drückt meine Hand gegen die Schranktür. Nichts. Ich rüttele und ziehe, doch die Türen bewegen sich nicht einen Millimeter. Ich erstarre. Niemand weiß von meiner Anwesenheit. Zaghaft fange ich an zu rufen, doch es bleibt still. Die Schrankwände umschließen mich wie eine zweite Haut. Sie beginnt zu atmen. Ihre Poren öffnen sich. Augenknöpfe starren aus den Ritzen. Eine Tür fällt ins Schloss. Ich höre meine Stimme: „Papa, geh nicht fort.“
Daniel Mylow, 1964 geb. in Stuttgart, Aufenthalte in Düsseldorf, Hannover, Berlin, Krefeld. Studium in Bonn und Marburg. Ausbildung in Kassel. Oberstufenlehrer in Hof und Wernstein, Marburg, Mainz, seit 2018 an der Freien Waldorfschule in Überlingen/Bodensee. Poesiepädagoge und Dozent für Literatur.
Letzte Publikation: Rotes Moor (Poetischer Thriller), Cocon Verlag Hanau 2017. Greisenkind (Roman) net Verlag Chemnitz 2020. Wenn du mir folgst…(Poetischer Thriller), EinBuch Literaturverlag Leipzig 2022
Zahlreiche Publikationen von Lyrik und Kurzprosa in Anthologien und Literaturzeitschriften. Diverse Auszeichnungen, zuletzt 2021 Lore Perls Literaturpreis (Verleihung 2022) und Bonner Literaturpreis. Kempener Literaturpreis 2017, Preis der Sparkassenstiftung Groß Gerau 2017, Merck-Stipendiat der Stadt Darmstadt 2018
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