Gedöns

Sven Palapies für #kkl28 „Dahinter“




Gedöns

Herr Seeliger bummelt gerne durch die Einkaufspassage in der Innenstadt. Heute war er einkaufen, einen Korkenzieher, Bettwäsche, einen Reiseführer über Sardinien, alles verstaut in einer eigens für diese Dinge vorgesehenen Jute-Tasche. Vor einem Modegeschäft saßen einige jüngere Personen, dem Aussehen nach Punks, zusammen mit ihren Hunden, die in der Sonne dösten. Vor einem jungen Mann, vielleicht Anfang 20, mit einem roten Irokesenhaarschnitt, standen mehrere leere Konservendosen, die offenbar für Almosen aufgestellt worden waren. Ein kleines Pappschild vor jeder Dose informierte den Spender über den Zweck der Spende. Anscheinend konnte man wählen, wofür das Geld verwendet werden soll nach dem Motto, wenn diese jungen Leute schon in den Genuss der eigenen Großzügigkeit kommen, dann sollte man als Spender zumindest darüber verfügen, ob das Geld für „Trinken“, „Essen“, „Kiffen“ oder „Gedöns“ ausgegeben wird. Herr Seeliger ging kurz in sich und stellte fest, dass er heute in Geberlaune war. Der Irokese saß im Schneidersitz auf einer Isomatte und nahm aus seiner Bierdose einen großen Schluck. Während er gedankenverloren in eine andere Richtung schaute, rülpste er voller Inbrunst. An seiner rechten Augenbraue trug er eine Sicherheitsnadel, am Körper eine schwarze Lederjacke mit verschiedenen Aufnähern und auf den Schultern spitz aufragende Nieten, zudem eine löchrige Jeans, die über den schwarzen Springerstiefeln mehrmals umgeschlagen war. Auf seinem Oberschenkel ruhte der Kopf seines Hundes, der von seinem Herrchen liebevoll gekrault wurde. Hinter dem Punk saßen und lagen andere junge Männer und Frauen, einige diskutierten miteinander, andere schwiegen und schienen die Passanten zu beobachten. Von irgendwoher war krächzende Ska-Musik zu hören, wozu eine im Gesicht tätowierte, barfüßige Frau mit schwankenden Bewegungen tanzte. Ein ausgesprochen räudiger Hund urinierte an ein Fahrrad, dem der Vorderreifen fehlte.

Herr Seeliger warf einen Blick in die Almosenbehälter. Während in der Dose mit der Aufschrift „Kiffen“ das meiste Geld zu liegen schien, war jene, die für „Gedöns“ vorgesehen war, leer. Er räusperte sich, hob seinen breitkrempigen Hut zum Gruß und stellte sich vor:

„Entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Seeliger. Dr. Wilhelm Seeliger“ Der Punk blickte ihn mit einem gelassenen Gesichtsausdruck an und führte, ohne zu antworten, die Bierdose an den Mund. Herr Seeliger fuhr mit einem freundlichen Tonfall fort.

„Können Sie mir Ihren werten Namen verraten?“

„Ralle“

„Sie meinen Ralf?“

„Nein, Ralle“

„Würden Sie mir auch Ihren Nachnamen verraten?“

„Furunkel!“ Ralle schaute seinen Hund an. „Haben wir einen Nachnamen? Nee?“ Er schaute wieder zu Herrn Seeliger hoch und hob, um sein Bedauern auszudrücken, die Schultern. „Tut mir leid, es hat nur für Ralle gereicht.“ Herr Seeliger blieb ruhig stehen und dachte nach.

„Herr Ralle, ich würde Ihnen gerne einen Geldbetrag überlassen, kann mich aber nicht entscheiden wofür. Was genau verstehen Sie unter „Gedöns“? Meinen Sie damit das Affektierte oder Manierierte oder viel mehr Firlefanz, wertlosen Plunder?“ Ralle blickte Herrn Seeliger weiter an, die Augen starr auf den vor ihm stehenden Mann gerichtet, der im langen schwarzen Mantel und mit der Jutetasche in der Hand vor ihm stand. Dann zog er kurz seinen Naseninhalt nach oben und nahm mehrere Schlucke Bier. Herr Seeliger konnte sehen, wie sich der Adamsapfel mit jedem Schluck auf und ab bewegte. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und nickte.

„Wertlosen Plunder. Etymologisch ist der Begriff auf das mittelhochdeutsche Wort `Gedense` zurückzuführen, was so viel heißt wie `Hin- und herzerren`.“ Herr Seeliger nickte anerkennend.

„Was wäre das in Ihrem Falle? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will mich nicht über Gebühr in Ihre Angelegenheiten einmischen, aber ich wüsste schon gerne, wofür mein Geld seine Verwendung finden wird.“ Furunkel, Ralles Hund, hob ein wenig seinen Kopf und gähnte mit weit aufgerissenem Maul, so dass man seine scharfen Eckzähne erkennen konnte.

„Damit ist alles gemeint, was nicht geraucht, gegessen oder getrunken werden kann, wertloses, nutzloses, überflüssiges Zeug eben.“

„Aha!“ Herr Seeliger nahm erneut seinen Hut ab und kratzte sich an seinem kahlen Schädel. „Also zum Beispiel eine Handcrème?“

„Prinzipiell ja, aber eher unwahrscheinlich.“ Ralle trank einen letzten Schluck aus seiner Bierdose, zerdrückte sie zwischen seinen Händen, warf sie nach hinten über seine Schulter und angelte sich eine weitere Dose, die hinter seinem Rücken gestanden haben musste. Zischend öffnete er sie, ein wenig Schaum quoll aus der Trinköffnung und ein leichter Biergeruch stieg Herrn Seeliger in die Nase. „Möchtest Du auch ein Bier?“

„Verbindlichsten Dank! Ich trinke nur bei einsetzender Dämmerung und dann zumeist Rotwein.“ Herr Seeliger tastete nach seinem Portemonnaie in seiner Manteltasche „Herr Ralle, ich bin ein wenig ratlos. Ich würde Ihnen gerne Geld geben, aber über die Verwendung müssten wir nochmal sprechen. Ich möchte ungern ihre Trinkgewohnheiten unterstützen, auch von Drogen halte ich nicht viel. Und was das Essen angeht, so befürchte ich, dass Sie und Ihre Freunde sich nicht am Salatbüfett gütlich tun oder sich auf dem Wochenmarkt mit frischem Bio-Obst und -Gemüse eindecken werden. Dann doch am ehesten „Gedöns“, doch wer verspricht mir, dass Sie, kaum drehe ich Ihnen den Rücken zu, das Geld nehmen und in eine andere Dose stecken werden.“ Ralle nickte verständnisvoll. Ja, das könne er nachvollziehen, diese Entscheidung verlange einiges von ihm ab, da müsse er sich natürlich Bedenkzeit einräumen, nichts übers Knie brechen, denn immerhin würden durch die Geldspende nichts geringeres als die Weichen seines Lebens neu gestellt. Aber, so Ralle, es sei wie bei allen Entscheidungen, mit denen uns das Leben konfrontiere, das Risiko, eine falsche zu treffen, könne nie ganz ausgeschlossen werden. Denn, wenn er sich für eine Option entscheide, dann entscheide er sich gleichzeitig immer gegen eine unüberschaubare Vielzahl anderer Optionen, die nie Realität würden und unter denen sicherlich die eine oder andere sei, die sich im Nachhinein als die bessere erweisen würde. Doch das würde er, der Spender, nie erfahren. Und aus dem Dilemma, dass auch eine Nicht-Entscheidung zwischen den sich anbietenden Optionen letzten Endes auch eine Entscheidung sei, nämlich eine gegen alle sich bietenden Optionen, komme kein Mensch heraus. Also Luft anhalten, Augen schließen und darauf vertrauen, dass er, Ralle, das Geld in der gewählten Dose lassen werde. Darauf sein Ehrenwort! Das schien Herrn Seeliger zu überzeugen. Er bückte sich und wollte gerade seinen Geldschein in die „Gedöns“-Dose legen, da hatte er einen Einfall. Er richtete sich auf und schaute sich um. In einem Abfallkorb entdeckte er einen deckellosen Schuhkarton, in dem wohl mal Kinderschuhe gesteckt hatten. Aus der Innentasche seines Mantels zog er einen Kugelschreiber heraus, schrieb mit ausladenden Bewegungen das Wort „Gesundheit“ auf die Längsseite und stellte den Karton rechts neben die „Gedöns“-Konserve.

„So, ich denke“, sagte Herr Seeliger, während er sich keuchend wieder aufrichtete, „in Ihre Gesundheit, Herr Ralle, wäre meine Spende gut angelegt. Vielleicht gehen Sie mal ins Fitness-Studio oder vereinbaren einen Termin bei einem Masseur.“

„Bist Du auch mit Pediküre einverstanden? Meine Fußästhetik lässt sehr zu wünschen übrig.“ Ralle löste dabei den Knoten seiner Springerstiefel und schaute über seine linke Schulter: „Lucy! Sei so lieb und schau mal in meinem Terminplaner nach, ob ich diese Woche noch eine Lücke habe für eine Pediküre.“ Lucy, die gerade mit einem Messer ein faustgroßes Stück Zwiebelmett auf einem Brötchen verteilte, nickte kurz und fing an, in einem schwarzen Rucksack zu wühlen. Dann zog sie einen Terminkalender hervor und blätterte ein paar Seiten um. „Lieber vor- oder nachmittags?“

„Nachmittags! Ich beliebe gemeinhin auszuschlafen.“ Herr Seeliger war zufrieden, zog zum Abschied seinen Hut und ging davon.





Sven Palapies

Ich lebe 46-jährig mit meiner Familie im Rhein-Main-Gebiet. Nach einer kaufmännischen Ausbildung und dem Psychologie-Studium in Marburg arbeite ich seit dem Jahr 2006 in einer psychiatrischen Klinik in Frankfurt als Psychotherapeut. 







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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