Ausgefranst

Tanja Schwibinger für #kkl41 „Rasender Stillstand“




Ausgefranst

Ich wollte fort. Unterwegs sein und erstmal nirgendwo ankommen. Fremdsein in der Fremde, bevor ich den Mut aufbrächte, auf meinen ureigenen Kern zu treffen, im grenzenlosen Erstaunen, dass ich ihn immer schon in mir getragen hatte. Dieser Kern, der tief in meinem Inneren den Wunsch barg, einen Platz für mich zu finden, an dem ich zur Ruhe kommen könnte. Um zu ihm vorzustoßen, müsste ich ihn Schicht für Schicht freilegen, die Hüllen der Angst durchdringen. Die Angst, vielleicht niemals diesem Ort zu begegnen, an dem ich die Courage hätte, mich niederzulassen. Um endlich Frieden zu finden. All mein Unterwegssein diente nur einem Zweck: Diesen Traum in Form meines Platzes Gestalt werden zu lassen; ein Hort für mich, mit dem ich verwachsen und Heimweh aussähen könnte, es wachsen zu lassen und bei meiner Rückkehr voller Glück über diesen hohen grünen Rasen zu streifen.

Ich stellte mir vor, mein roter Faden bestünde aus einzelnen Schnüren, und diese sollten bestenfalls das Fernweh mit dem Heimweh verbinden, ein ausgewogenes Maß von beidem schaffen. Ineinander verwoben und ihren Knotenpunkt in meinem Zuhause finden. Ohne mich, wie eine Marionette, in diesen Schnüren zu verheddern und mich daran zu erdrosseln. Das Fremde im Vertrauten zu entdecken, ebenso, wie das Vertraute im Fremden. Eine Bleibe, die den emotional aufgeladenen Begriff Heimat auch verdiente, weil es dort mehr Rituale gab als anderswo. Rituale, die das Lebensfeuer der Traditionen anfachen und nicht als tote Asche auf den Alltag rieseln und jede Flamme unter einer dicken Schicht ersticken würde.

Bislang war ich sesshaft im Aufbrechen und das Ziel verschwamm irgendwo in der Ferne. Mich trieb eine ziellose Suche. Ich knüpfte Reise an Reise, woraus sich später unzählige Umzüge ergaben, die oft Ortswechsel im Gepäck hatten. Ich setzte all meine Reisen zu einem Flickenteppich aus Eindrücken zusammen, meinem Orientteppich.

Bei jedem neuen Domizil hörte ich in mich hinein, ob dieses es schaffen könnte, sich in ein dauerhaftes Heim zu verwandeln.
Immer wieder aufs Neue meinte ich zu spüren, wie mein Selbst die alte Haut abwarf, sie abstreifte und eine neue, fremde nachwachsen ließ. Bis auch diese die ersten Alterserscheinungen aufwies, wie eine wellig gewordene Tapete. Bevor mit ihr die Illusion einer Heimat abblätterte, musste ich weiterziehen. Immer weiter, bis mit der Zeit ein Geflecht von Stätten entstand, das mich trug wie eine Hängematte. Und doch kein richtiges Bett ersetzen konnte. Die Gegenwart blieb die Ersatzbank, die Wartezone.

Letztendlich stand ich mit einem heillosen Durcheinander an Fäden da, ohne meinen roten Faden, der mich durchs Leben führen sollte, gefunden zu haben. Ich hatte ein solch übersteigertes Bild von einem Zuhause, dass ich mit jedem weiteren Versuch immer verzweifelter wurde. Mit jedem Umzug sollte es passender und besser werden. Mein größter Ballast war jedoch mein Koffer voller Ansprüche, über den ich regelmäßig stolperte: Ich wollte dort alles antreffen, was mir zur glücklichen Vollendung meiner Irrfahrt diente. Dass sich mein Traum erfüllte und in einer Herberge materialisierte.

Dieser Überfrachtung des Begriffes Heimat konnte kein Unterschlupf standhalten; er brach unter dieser Last zusammen; sooft ich mein Kartenhaus mit zittrigen Händen auch aufbaute, es stürzte ein. Ich projizierte ein solch explosives Gemisch aus Sehnsüchten und Wunschvorstellungen auf das jeweilige Zuhause, dass es bei der nächsten Zigarettenpause wie mit einer Stichflamme in Rauch aufgegangen wäre.

Ich nomadisierte durch mein Leben, wollte nicht nur die vier Wände hinter mir lassen, sondern mich selbst. Und war mir selbst ein Klotz am Bein. Denn wohin ich auch ging, ich war immer schon da. An jedem neuen Ort glaubte ich, mich in einen neuen Menschen zu verwandeln, den ich lieber mochte als mein altes Ich. Jemand ohne eine Vergangenheit, die ich hinter mir herzog wie Toilettenpapier, das versehentlich am Absatz meines Schuhes klebengeblieben war. Und ich mit meinem Tunnelblick mit der Schleppe eines Brautkleides verwechselte.
Es war immer nur mein altes Selbst, dass mich mit offenen Armen empfing. Mir nicht unbedingt einen roten Teppich ausrollte, mich aber immerhin mit einer abgestoßenen Fußmatte schwach willkommen hieß.

Nach meinem ersten Trip mit 18, einer vierwöchigen Interrail-Tour, rollte mir meine Mutter vor Freude über meine unversehrte Rückkehr einen rotgemusterten Läufer aus, den meine Großmutter geknüpft hatte. Ich wäre am liebsten auf ihm sitzen geblieben und auf und davon geflogen. Ohne es zu bemerken, hatte ich das Ruder zu meiner persönlichen Odyssee übernommen.

                           Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm

Dieser Reim, der uns Kinder bei Sonntagswanderungen mit
Spaß zum Weitergehen animieren sollte, hatte er bei mir so gut gewirkt, dass er mich auch im Erwachsenenalter immer weitertrieb.
Und doch an Ort und Stelle hielt.

Immer in Bewegung bleiben, das war mein Credo. Obwohl ich keinen Millimeter weiterkam, wäre Stillstand nicht auszuhalten gewesen. Ich fühlte mich getrieben, diese Unrast höhlte mich aus, fraß alle Reserven. Sie nahm die Zeit und die Kraft in Anspruch, die andere in Karriere oder Familiengründung gesteckt hatten. Nichts hielt mich länger an Ort und Stelle. Ich entwickelte ein seismografisches Gespür für das Auftauchen eines Problems und ging ihm aus dem Weg, in dem ich prompt mein Bündel schnürte, mich an die nächste Straße begab, um dem Daumen in den Wind zu halten. Die Angst vor der lähmenden Stagnation der Sesshaftigkeit hatte mich im Griff.

Hacke, Spitze, Hacke, Spitze

Mit dem Alter und seiner systemimmanenten Materialermüdung hat sich auch das Interesse am Unterwegssein abgenutzt. Es ist zu anstrengend geworden und zu ungewiss in seinem Verlauf.
Nun wohne ich auf einem Campingplatz in einer Landschaft, die
sich andere als Ferienziel aussuchen, und dieses Leben bereitet
mir als frühere Stadtbewohnerin ausreichend Abenteuer.

Und schließlich entwickelte ich mit der Zeit Gewohnheiten in meinem Alltag, die mir liebgewonnen sind und ebenso schwer an mir hängen, wie meine inzwischen abgetragene Haut. Aus der ich schlecht herauskomme, auch wenn sie nicht mehr allzu straff an mir sitzt. Wenn man sie schon so lange trägt wie ich, erzählt jede Falte eine Geschichte und macht mich zur knittrigen Kosmo-Poetin.

Reichen mir meine Erzählungen nicht, wird das eigene Heim zur Fremde gestaltet. Ich kann in meinem Mikrokosmos unterwegs sein, und die Überquerung meines Orientteppichs wird zum Abenteuer. Die Besteigung des Sofas, die Reisen durch das Haus, das Zimmer, den Rucksack. Oder ich trippele mit den Augen auf Zehenspitzen durch die Menüvorschläge meiner Kochbücher und stoße auf neues Terrain, in dem ich zwei grundverschiedene Zutaten in den Mund stecke und erlebe, wie sich die frische Erdbeere und der lauwarme Spargel im Mund vermählen und etwas Neues gebären. Eine Komposition, weit mehr als ihre einzelnen Anteile – wie ein Kind, das Bausteine beider Elternteile in sich trägt und doch einzigartig ist.

In die Hocke, hoch das Bein

Wann immer es mich drängt, das Vertraute zu verlassen, besteige ich meinen Teppich. Ich kann davonschweben und doch mit beiden Beinen auf dem Teppich bleiben. Ich knüpfe die losen Enden der einzelnen Szenarien zu einer Brücke zusammen, über die ich an imaginäre Orte gelange, ohne dass ich mich in der realen Welt verfransen muss. Ich kann einfach in mein Schlafzimmer gehen und bin in Alaska, während mein Wohnzimmer mit der Terrasse und dem Blumenmeer, dem Pfad zum Bach und das grüne Dickicht dahinter mir überzeugend die Tropen vorgaukeln.

Wichtig ist nur, nicht den Faden zu verlieren. Ohne die losen Enden nachträglich verflechten und sie mit meinem eigenen Blut einfärben zu müssen.




In Hildesheim 1966 geboren, lebt Tanja Schwibinger im Südwesten Deutschlands. Wenn sie nicht schreibt, dokumentiert sie Augenerkrankungen, baut an ihrem Mobilheim an der Alb, fotografiert, kocht, gärtnert in ihrem Heilpflanzen- und Gemüsegarten oder wandert durch die Landschaft.
Ihre Kurzgeschichten wurden in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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