Vom Getriebenwerden zum Sein

Martin A. Völker für #kkl41 „Rasender Stillstand“




Vom Getriebenwerden zum Sein

Der Geschwindigkeitsschock ist zur täglichen Sorgenroutine geworden. Wird es dir am Morgen gelingen, schnell genug aufzustehen, um zu duschen, zu frühstücken, zu sporteln? Wirst du den Bus rechtzeitig erreichen? Im Sauseschritt zur Haltestelle isst du jenes halbe Croissant, das du gestern aus Zeitgründen nur angebissen hattest und in die linke Manteltasche stecktest. In der rechten Hand hältst du dein Smartphone und tippst eifrig mit dem Daumen darauf herum, derweil die aufblinkenden Rücklichter des Busses dir dein Heranrasen als Langsamkeit auslegen. Wäre doch gelacht, das Hypertempo nicht noch etwas anzuziehen! Der frühe Vogel fängt den Wurm? Der schnellste Vogel fängt bereits den nächsten und übernächsten Wurm! Das Leben ist ein Sturzflug, ein Dauerlauf. Dennoch scheint sich etwas verändert zu haben: Ein Langstreckenlauf lebt von der zwar kontinuierlichen, dennoch eher lockeren, fließenden Bewegung. Heute indes wird dir abverlangt, das absonderliche Tempo der Kurzstrecke auf die Langstrecke zu übertragen. Herzrasen bekommst du nicht erst, wenn du am Abend wieder vor einem geliebten Menschen stehst, sollte es einen solchen in deinem überschnellen Leben geben. Das Herzrasen begleitet dich auf dem Weg zum Bus, zum Bahnhof, zum Büro, zur Kantine, zur Toilette, zur eigenen Grabstelle. Der Fluch der Geschwindigkeit blieb jenen unbekannt, die in der Barockzeit die beste Medizin dagegen fanden und erfanden: das Stillleben. Was zeigt dir das Bild? Eine Schale mit drei rotbraunen Birnen und zwei angedunkelten Bananen, auf denen ein grüngelber Apfel thront. Kannst du es aushalten, den Apfel hier ruhig liegen zu sehen, nicht durchbohrt vom Hochgeschwindigkeitspfeil eines Wilhelm Tell? Kannst du es ertragen, dem Obst dabei zuzusehen, wie es einrunzelt, wurmstichig wird, wie es fault und matscht? Um Himmels willen, nein! Schnell die Früchte so anordnen, dass sie sich nicht berühren! Oder rasch alles in den Kühlschrank räumen? Nein, nein, nein! Ins Kaufhaus sprinten, um eine Abdeckglocke und eine Fruchtfliegenfalle zu kaufen! Was sagt das Internet dazu? Es bricht herein eine Flut schlauer Tipps, welche die Unruhe erhöhen und die Entscheidungsfähigkeit herabmindern. Das ist rasender Stillstand! Ein Stillstehen, das als schmerzhaft empfunden wird. Wir fühlen uns wie gelähmt, währenddessen es in den Ohren rauscht, und das Durchscrollen der Webseiten vor, in und hinter den Augen flimmert. Es entsteht eine erzwungene Bewegungslosigkeit ohne die Stille, welche wir bitter nötig gehabt hätten, um uns zu besinnen. Die besinnliche Stille, die beruhigende Beständigkeit vermittelt dir stattdessen das Stillleben. Es tut dies, ohne lügnerisch den Verlust der Beständigkeit zu übergehen. Alles ist nämlich vergänglich. Dein Rennen in die entgegengesetzte Richtung ist nutzlos. Auch du bist ein grüngelber Apfel, den die Fruchtfliegen umkreisen. Ja, der schnellste Vogel fängt bereits den nächsten und übernächsten Wurm! Aber der schnellste Vogel wird den Aasfliegen ebenso wenig entgehen können. Die Ewigkeit gehört allein den Göttern, die wir lange vor der Beschleunigung unserer Zeit verloren haben. Was tun? In Trauer stillstehen? In depressiver Langsamkeit verharren? Sich in Stein meißeln lassen? Nein. Leben ist ohne Bewegung unvorstellbar. Also bewege dich, jedoch anders, als du es gewohnt bist. Wie wäre es damit: Morgen eilst du zum Bus, der dich zum Bahnhof bringt. So weit, so bekannt und ungut. Allerdings steigst du in einen ganz anderen Zug, nicht auf schnellstem Weg der Arbeit, sondern im besten Sinne weitschweifig der Freiheit entgegen. Strecke und Ziel sind egal. Entspannt sitzt du da, atmest tief durch, hörst den Gesprächen der Fahrgäste zu, achtest auf die Geräusche der Bahnschwellen. Wenn du Glück hast, findest du ein letztes Stück Croissant in deiner Manteltasche. Es wird dir besser schmecken als am Vortag, es wird dich völlig sättigen. Irgendwann wirst du irgendwo aussteigen und irgendetwas tun, und alles wird gut sein. Du wirst dort sein, wo du bist, weil du bei dir bist und sein darfst.




Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Dozent, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Hinterlasse einen Kommentar