Der erstletzte Satz

Maximilian Muck für #kkl41 „Rasender Stillstand“




Der erstletzte Satz

Ich sitze vor dem weißen Blatt Papier und weiß, dass auf ihm gleich die genialste aller Geschichten entstehen wird. Ich sitze vor dem weißen Blatt Papier und lasse in meinem Kopf den ersten Satz dieser Geschichte entstehen. Der erste Satz, der den Leser zunächst ratlos zurücklassen und der doch so viel Spannung erregen soll, dass man unbedingt weiterlesen möchte. Der erste Satz, der bereits die gesamte Essenz dieser genialsten aller Geschichten enthält und doch nicht zu viel verrät. Der erste Satz, der sich nur durch den letzten erschließt.

Ich sitze vor dem weißen Blatt Papier und in meinem Kopf entsteht der letzte Satz, ohne, dass ich den ersten zu Ende gedacht oder gar aufgeschrieben hätte. Der Anfang des ersten und das Ende des letzten Satzes fügen sich aneinander, werden zu einem erstletzten Satz, und ich beschließe, ihn einfach zweimal zu verwenden, am Anfang und am Ende, weil er so genial ist wie die gesamte Geschichte werden wird. Ich sitze vor dem weißen Blatt Papier und finde, dass ich jetzt, wo ich den Anfang und das Ende dieser genialsten aller Geschichten festgelegt habe, auch noch die Sätze vorkonstruieren könnte, die den Mittelteil füllen sollen. An Ideen fehlt es mir nicht. Ich spüre sie förmlich hinter meiner Stirn, die sich überbietenden, brummenden Sätze, die Wörter, die zu mir kommen wie Bienen zu den Blumen, und ich sitze vor dem weißen Blatt Papier. Der erstletzte Satz gefällt mir so gut, dass ich mich kaum traue, den zweiten anders zu beginnen als den vorherigen.

Doch weil der vorherige, dessen Anfang vom ersten und dessen Ende vom letzten Satz herrührt, durch das Ende des letzten Satzes quasi nicht erweiterbar ist, reihen sich, sollte ich den Anfang des ersten Satzes der untrennbar mit dem Ende des letzten Satzes verbunden ist einfach noch einmal wiederholen die immer gleichen Sätze aneinander und das soll dann die genialste aller Geschichten sein genialer als alles was bisher geschrieben wurde na danke das kauft mir ja keiner ab da tippen die sich an die Stirn die das lesen da denken die ja ich hätte gar keine Idee gehabt dabei rasen die Ideen geradezu durch meinen Kopf und immer wieder der erstletzte Satz, der zuerst stehenbleibt, und der sich dann wieder in die Hälfte des ersten und die Hälfte des letzten Satzes aufzuspalten beginnt und am Anfang und Ende plötzlich die brummenden Wörter verliert. Die Wörter, die ich einst so schön vor Augen gehabt hatte. Die Wörter, die einen Satz zu bilden begonnen hatten, der der genialste aller Sätze geworden wäre. Ich sitze vor dem weißen Blatt Papier und meine Gedanken stehen still. Ich sitze vor dem weißen Blatt Papier und weiß, dass es weiß bleiben wird. Dann stehe ich auf.




Maximilian Muck
04.06.2002: Geburt in Karlsruhe (Rüppurr)

2015/2016: Teilnahme an den Kreativwochen des 6. Jahrgangs der Kulturakademie der Stiftung Kinderland Baden-Württemberg auf der Schillerhöhe in Marbach mit Silke Scheuermann und Matthias Göritz

2018: Teilnahme an einem Kreativwochenende der Zukunftsakademie der Stiftung Kinderland Baden-Württemberg in Stuttgart mit Silke Scheuermann und Matthias Göritz

2018: Teilnahme an einem Essay-Schreibwettbewerb der Baden-Württemberg-Stiftung; Publikation eines Essays mit dem Titel „Der alte Wert“ in „(W)Orte der Demokratie. Eine Essay-Sammlung von der Baden-Württemberg-Stiftung.  

2021: Abitur am Fichte-Gymnasium in Karlsruhe;  

seit dem Wintersemester 2021/2022: Polyvalentes Bachelorstudium der Fächer Deutsch und Geschichte mit Lehramtsoption an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

seit dem Wintersemester 2022/2023: Studium des Faches Politikwissenschaften als Erweiterungsmasterstudiengang






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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