Jonas im Zug

Birgit Ramon für #kkl41 „Rasender Stillstand“




Jonas im Zug

Er saß direkt am Eingang des Großraumwagens, den Kopf ans Fenster gelehnt, die Kapuze seines Pullovers bedeckte fast sein ganzes Gesicht.

Sie hatte kurz überlegt, ihn sofort anzusprechen. Doch sie ging zu ihrem reservierten Platz, klappte den Tisch auf, legte ihre Tasche ab, wollte arbeiten.

Jonas hier im Zug. Sie atmete hörbar aus, spürte ihren Herzschlag. Wie unwirklich. Jonas hier, in Fleisch und Blut. Am liebsten würde sie jetzt sofort zurück gehen, ihn genauer anschauen, ihn ansprechen, seine Augen auf sich gerichtet sehen, seine Stimme hören.

Der Zug hatte Fahrt aufgenommen. Jonas. Seit der Beerdigung von Sybill vor zwei Jahren war sie ihm noch ein- oder zweimal begegnet, bei seiner Mutter zuhause. Doch ein Gespräch mit ihm war nicht möglich gewesen. Kein Gespräch über Sybill, die ihre Tochter gewesen war und seine Freundin, kein Gespräch über die gemeinsame Zeit mit ihr. Über die Zeit vor ihrem Tod. Nur mit Freya konnte sie reden – und weinen. Jonas hatte sein Zimmer kaum noch verlassen und war nicht ansprechbar gewesen. Bis er dann eines Tages seinen Rucksack gepackt, seiner Mutter Adieu gesagt hatte und zu seinem Vater nach Oslo gezogen war. Von dort wollte er, so hieß es, auf einer Bohrinsel anheuern.  

Es war Samstag, der Zug fast leer. Jonas hier im Zug. Sie lächelte unwillkürlich. Freya würde sich freuen, wenn sie es ihr erzählte. Sie klappte den Laptop zu und ging zurück zu dem Platz, an dem er saß. Er schien zu dösen, sein Kopf an das Fenster gelehnt.

„Hallo, Jonas, wie schön, dich hier zu treffen!“

Jonas‘ Gesicht war kantiger geworden, erwachsener. Oder einfach nur älter.  

Hatte er sie nicht gehört? Etwas lauter: „Jonas, ich bin’s, Karen!“

Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und drehte den Kopf zur Seite. „Ich kenne Sie nicht!“

Sie ging zu ihrem Platz zurück. Die Landschaft zog vorbei, grüne Wiesen, überzogen von gelb leuchtendem Löwenzahn, Weiden mit Kühen und Pferden. Diese Saftigkeit der Wiesen, die quatschenden Geräusche beim Einsinken der Füße. Sie roch förmlich das Frische, Satte, Modrige, das aus den Wiesen aufstieg, den leichten, etwas bitteren Duft des Löwenzahns. Und wieder, wie immer seit zwei Jahren, wie in jeder Landschaft, die sie betrachtete, sah sie in der Ferne Sybill. Dieses Mal in ihrem weißen Kleid, in der Hand einen Strauß Wiesenschaumkraut. Über die Wiesen sah sie sie laufen, schweben, immer weiter weg schweben. Ihr kleiner Engel.

Jonas hier im Zug. Jonas, der Sybill geliebt hatte, der die letzten Tage ihres Lebens an ihrer Seite war, auch als sie leblos auf der Straße lag, Arme und Beine verdreht, und das Fahrrad zerquetscht, hunderte von Metern weiter am Straßenrand. Überall Blut, ihr Gesicht, Sybills feines Gesicht, die Haare voller Blut. Der Helm weggerissen. Jonas, der das Unglück erlebt und selbst nicht mal einen Kratzer abbekommen hatte, der dem LKW ausgewichen war, als dieser mit rasender Geschwindigkeit auf der schmalen Bergstraße die beiden Radfahrenden überholen wollte und nur einen überholt hat, weil dieser in den Graben gefahren war. Jonas war in den Graben gefahren, hatte sich wieder hochgerappelt und dann das Unglück gesehen, hatte das Schreien gehört, erst sein eigenes und dann das von Sybill. Er hatte gesehen, wie Sybill unter den Reifen verschwand und dann lag sie da, verdreht und voller Blut. Und der LKW war weitergefahren, mit dem Fahrrad am Kotflügel war er weitergefahren.   

Sie verscheuchte die Gedanken und Erinnerungen, die eigentlich keine waren, sondern dem Unfallbericht der italienischen Behörden entnommen waren. Und den Erzählungen von Jonas. Als der noch sprach und sie alle zusammensaßen, damals, kurz danach. Freya und Carl hatten ihren Sohn in die Mitte genommen, abwechselnd den Arm um ihn gelegt, ihn gestreichelt und gedrückt. Und sie und Ivor hatten kein Kind mehr. Sie konnten das Unglück nicht fassen. Ihr Kind war tot.  

Wieso saß Jonas in diesem Zug? War er zurück? Oder war es am Ende gar nicht Jonas, den sie angesprochen hatte? War es ein Fremder, der Jonas ähnelte?

Sie stand auf und ging erneut zu seinem Platz. Der Mann hatte die Augen jetzt geschlossen und schien zu schlafen. Blass sah er aus, schwarzer Kapuzenpullover, Jeans, braune Sportschuhe. Die lässige Haltung kam ihr vertraut und fremd zugleich vor.  

Zurück an ihrem Platz, versuchte sie, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie seufzte und schaute in die Wiesenlandschaft. Wahrscheinlich sah sie Gespenster.

Und dann arbeitete sie tatsächlich. Bis der Laptop blinkte. Sie kramte gerade das Kabel aus der Tasche, als es sie heftig nach hinten riss und unter Kreischen und Quietschen in den Sitz drückte. Der Zug kam zum Halt, mitten in den Wiesen. Die Durchsage informierte über eine Notbremsung wegen unbefugter Personen im Gleis.

Sie schloss die Augen. Ihre Hände zitterten und sie versuchte, ruhig und tief zu atmen. Sie stand auf, tastete sich an den Kopfstützen entlang nach hinten durch.

Der Platz, an dem Jonas gesessen hatte, war leer.




Birgit Ramon, geb. 1956 in Bremen, wohnt seit 20 Jahren in Oberbayern. Selbständige Beraterin; Fachpublikationen in den Bereichen Weiterbildung, Coaching und Personalentwicklung. Verwaiste Mutter; erfolgreiche Erfinderin von Tiergeschichten für ihre Großnichten und -neffen.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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