Unverdaut

Selina Mavie Teichmann für #kkl41 „Rasender Stillstand“





Unverdaut

Noch im selben Atemzug lässt Julia das Bild des Neugeborenen im schwarzen Loch ihres Smartphones verschwinden. Die Fotografie ist unwiederbringlich, unhaltbar ins Nichts entglitten. Doch der leer gewordene Raum wird sogleich von der nächsten Momentaufnahme eingenommen.

Sascha erblickt sein Spiegelbild im reflektierenden Bildschirm.

“Ich habe es nicht gesehen, das Babyfoto.”

Ein beiläufiger Blick, Schulterzucken. Für Julia hat das Bild des Neugeborenen längst an Reiz verloren. Fortgetragen vom frischen Wind, der die endlose Parade an Inhalten vorantreibt. Kaum wahrnehmbar sind die Berührungen des Bildschirms, die den Momentaufnahmen zu ihrem verfrühten Verschwinden verhelfen. Für unzufriedenstellend befunden entlässt Julia sie in den Abgrund der Unbedeutsamkeit. Sascha wendet sich ab, ehe seine Schädeldecke an der Felskante zu zerbersten droht.

Doch das Gewirr hat seine Sinne bereits infiltriert, Tentakel umschlingen seinen Torso, seine Gliedmaßen.

Saschas Körper versteift sich. Er klammert sich an den Haltegriff.

Julia ist schon vor Minuten in gebückter Haltung versteinert. Lüsterner Ausdruck schimmert in ihren Augen, er lechzt nach Multidimensionalität. Versunken in digitale Parallelität: Sieben Stationen, siebzehn Minuten, siebzig Bilder.

“Schau, der Max ist in Thailand!”, hält Julia Sascha ihr Smartphone erneut vor die Nase und der Küstenstreifen verschwimmt vor seinen überbeanspruchten Augen, die Palmen, der tiefblaue Ozean und der Geruch von Salzwasser, er vermischt sich mit dem Geschmack von Käsefondue, dessen Fäden sich quer über den Bildschirm ziehen, dem Rauschen des Meeres, dem Duft nach Nelken. Losgetreten ist eine Lawine, sie rollt auf Sascha zu, blendendes Weiß, überwältigend, ihre Schwere erstickt, sie raubt ihm beinahe den letzten Atem, als er die Augen schließt, nach Luft schnappt. Seine mit dem Haltegriff eins gewordenen Finger verkrampfen sich, färben sich blau und Sascha muss an das Kind denken, das Baby, das Neugeborene, dessen Namen er nicht kennt, dessen Namen er nicht erfragen konnte, während sie von einer Station zur nächsten schießen. Karlsplatz, Stephansplatz, Schwedenplatz. Kein Platz für Fragen, kein Platz für eigene Gedanken, es platzt der Kopf, es platzt heraus die Fülle an Eindrücken, die ihn erdrücken, entzücken, doch stets nur für einen Augenblick, für den Bruchteil einer Sekunde, einer Millisekunde, einer Nanosekunde. Im Chaos der Empfindungen wird ihm die als Gegenwart maskierte Gleichzeitigkeit zu grell, sie brennt sich mit pulsierenden Stroboskobeffekten ins Innere seiner Augäpfel, zerfetzt den Sehnerv und hinterlässt gähnende Leere, Hunger nach mehr, unstillbar, unüberwindbar, das Verlangen nach Simultanität. Dreifacher Reiz, dreifache Intensität, stete Gefahr, in die Falle der Eindimensionalität zu tappen, jeder Schritt gehaltvoll inhaltsleer, seine Gedanken so stumpf, seine Worte nichts als Floskeln, ausgesprochen, um zu verklingen. Sein Leben?

Schwindel. Sascha taumelt. Die Musik ist längst verklungen und doch kann er sie nach wie vor hören, er kann ihre schrillen Farben sehen, sie tänzeln vor seinem inneren Auge in immer kleiner werdenden Kreisen auf und ab, ein Kribbeln auf der Haut, unangenehm, betäubend, belebend, benebelnd wie Ecstasy auf Speed, wie der Trip des Jahrtausends, jeder Reiz ein Hochgefühl des Süchtigen. Stakkato stechender Signaltöne, arhythmisch aufeinanderfolgende Paukenschläge, Herzschlag der Versäumnis Fürchtenden. Reklameschilder zersplittern, bunte Scherben prasseln auf ihn herab, sie umhüllen ihn, dringen mit ihren Slogans, ihren Jingles in seine Poren ein, in sein Intimstes, sie zersetzen die Magenschleimhaut, bis giftige Dämpfe in sein Gehirn aufsteigen, sodass er nachts schweißgebadet in den Laken liegt, desorientiert, angsterfüllt, von einer Seite zur anderen wälzend, zuckend, fröstelnd. Das Gewicht seiner Eindrücke ein exponentielles Wachstum, die Last seiner Wahrnehmung zerrt am Saum des Schlafrocks, Sascha sinkt danieder, küsst den nach Fäkalien duftenden Boden der Bahn und die Bahn küsst mit brennender Leidenschaft zurück, lässt ihre Zunge bis in den ausgebrannten Komplex seines Gedankenapparats vorschnellen, zieht Sascha in eine erotisierende Umarmung, Geborgenheit des unabänderlichen Absturzes. Der Saft verrottender Organe fließt über das Linoleum, ätzt ein Labyrinth an Erinnerungen in den Kunststoff, Gedärme, durchlöchert, schlängeln sich schmatzend der Gravur entlang in seinen zum stummen Schrei geformten Mund, zurück an ihren Ursprungsort. Angesagter Halt, Körper über Körpern, begraben unter Menschen, reizüberflutet, er blutet, er brüllt, als könne ihn die Kraft seiner Stimme vom Irrsinn befreien, doch unaufhaltsam kriecht die alles verzehrende Schwärze aus seiner peripheren Vision über die Schwelle der Augenlider und verschmilzt mit seiner Hornhaut. Sieg der Dunkelheit.

Das Knistern des Feuers lässt Sascha wieder zu sich kommen. Als er die müden Augen öffnet, fällt sein Blick zunächst auf Julia. Sorgengeplagt nimmt sie dicht neben ihm Platz, streicht mit ihren zarten Fingern behutsam über seine Hand.

Von der Unmittelbarkeit des Moments ergriffen betrachtet Sascha das im Ofen knisternde Holzstück, beobachtet, wie sich die schwarz werdende Rinde vom Scheit löst, ehe sie zu gräulicher Asche zerfällt.

“Schön”, flüstert Julia, doch versteht sie noch im selben Augenblick, jede Narration ist überflüssig, sie verstummt, lässt den orangefarbene Schimmer der Glut für sich selbst sprechen.

Der flackernde Schein des Feuers wirft tanzende Silhouetten ihrer reglosen Gestalten an die Wand, doch Sascha entgeht das Spiel aus Licht und Schatten, er ist mit all seinen Sinnen auf das Züngeln der Flammen konzentriert. Die vom Ofen ausgehende Wärme harmonisiert sein zerrüttetes Herz, vergessen sind Schnelllebigkeit und Simultanität, verflogen ist seine Beklemmung.

“Sascha”, setzt Julia an und es vergehen einige Momente, bis er schließlich vom verzehrenden Anblick des Feuers ablassen kann. In der Geborgenheit der Entschleunigung hat sich sein elektrisierter Körper entspannt, sein Puls verlangsamt. Klaren Kopfes, befreit von der Last all seiner sinnlichen Wahrnehmungen, widmet er sich schließlich seinem Gegenüber.

“Sascha, mich lässt der Gedanke nicht los…”

Fragend neigt er den Kopf zur Seite, gibt ihr mit einem sanften Lächeln zu verstehen, dass er ganz bei ihr ist.

“Was glaubst du, wie heißt Barbaras Baby?”

“Hektor.”

“Schöner Name!”





Selina Mavie Teichmann ist Wiener Künstlerin mit Schaffensschwerpunkt Literatur und Kulturredakteurin. Während ihrer Ausbildung lebte sie zeitweise in Großbritannien und Deutschland, neben Deutsch und Englisch spricht sie Italienisch und Japanisch. Begleitend zu ihrem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien wirkte sie bei zahlreichen österreichischen Kurzfilmproduktionen mit. Ihre letzte Publikation erschien neben jenen schriftstellerischer Größen wie Pavel Kohout und André Heller in Christine de Grancys Über der Welt und den Zeiten.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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