Christian Knieps für #kkl41 „Rasender Stillstand“
Alles im Griff
Als mir meine Freundin bei einem unserer seltener gewordenen Gespräche übers Telefon sagte, dass sie alles im Griff habe, schlugen bei mir alle Freundin-in-Not-Alarmglocken auf einmal an. Alles im Griff! Wie sich das schon anhört! Wie ein gehetzter Kleinkrimineller, der sich selbst einredet, dass er den Mist noch geregelt bekommt, wenn er noch mehr Mist produziert. Oder wie ein suchtkranker Spieler, der noch mehr in den Automaten wirft, weil das nächste Spiel sein Leben garantiert verändern wird.
Ich sage ihr noch im Telefonat, dass ich alles stehen und liegen lasse, um den weiten Weg zu ihr zu fahren, auch wenn es mir familiär – genau genommen – überhaupt nicht in den Kram passt. Aber es ist die Freundin aus den alten Tagen, als wir noch jung und wild waren. Wobei jung und wild im Vergleich zum heutigen Spießerleben gesehen werden muss; wirklich Radikale oder Unabhängige sind wir nicht gewesen.
Sie beteuert, dass ich nicht kommen brauche, es regele sich gerade alles von alleine wieder. Da war es! Sie hatte nur vermeintlich alles im Griff. Wer sagt auch schon: Ich habe alles im Griff?!
Ich denke die ganze Zeit darüber nach, was schiefgelaufen sein mochte, was sie regeln muss. Hat sie sich vielleicht einen Typen angelacht, den ich nicht kenne, der aber ein Spinner ist? Mit Männern hatte sie noch nie was im Griff gehabt – das scheint mir das Naheliegendste zu sein. Oder Geldsorgen? Sie hat schon immer gerne über ihre Verhältnisse gelebt und oft schon Geld ausgegeben, das sie noch gar nicht hat.
Ich will sie fragen, aber etwas bremst in mir, und wir schweigen uns an. Worst case! Sie weiß, dass ich ihr nicht glaube, und ich weiß, dass sie es weiß. Sie möchte scheinbar keine Hilfe, sagt es aber nicht – die Frage ist: Warum? Bei Geldsorgen könnte ich ihr helfen. Bei Problemen mit ihrem Umfeld oder ihrer Arbeit – könnte ich helfen. Kann sich also nur um einen Typen handeln! Setze ich alles auf eine Karte?
Alles im Griff! Ich habe alles im Griff! Ich wiederhole den Satz fast mantraartig in meinem Kopf.
Sie wünscht mir aus dem Nichts noch einen schönen Abend, ich solle nicht vorbeikommen, und wir könnten in ein paar Wochen nochmal telefonieren. Meine Nackenhaare stehen alle zu Berge, doch ich bin viel zu gelähmt, um mehr als ihr zuzustimmen. Sie legt auf, und ich höre buchstäblich das Nichts in der Leitung. Ich lege das Handy weg und frage mich ernsthaft, ob ich alles im Griff habe. Scheint wohl nicht so zu sein!
Christian Knieps, geb. 1980, lebt und arbeitet als Abteilungsleiter bei DHL Express in Bonn und schreibt Theaterstücke (veröffentlicht im adspecta Theaterverlag, Plausus Theaterverlag, meintheaterverlag und Ostfriesischer Theaterverlag), Kurzgeschichten (in einigen Zeitschriften wie Dreischneuß, experimenta, Litges… veröffentlicht) und Romane.
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