September-Blues      

Monika Schlößer für #kkl41 „Rasender Stillstand“




September-Blues                                     

Petrus sorgt mal wieder für ergiebigen Landregen. Obwohl der September gerade drei Tage alt ist, hängt in den Bäumen schon der Duft des kommenden Herbstes. Eine unerklärliche Sehnsucht treibt Jan Clasen zum Ufer des Rursees. Als der 59-jährige die leeren Stühle der Gartenlokale entdeckt, schlendert er weiter zum Schiffsanleger. Weit und breit ist keine einzige Menschenseele zu sehen.

Auch die Angestellte der Rurseeflotte hält vergeblich nach Fahrgästen Ausschau. Als sie Clasen entdeckt, lächelt sie geschäftstüchtig. Nach kürzester Zeit fallen ihre Mundwinkel wieder herab und setzen der Tristesse das I-Tüpfelchen auf.

Plötzlich wird die trügerische Ruhe aufgerissen. Clasen horcht irritiert auf, er kann Stocknägel gegen den Asphalt schlagen hören. Tack und tack, tack und tack macht es immerzu. Anfangs kommt das störende Geräusch noch so leise wie ein Termitenschwarm daher getippelt. Dann aber bläht es sich rasend schnell auf und wird mit jedem Meter, den es an Distanz verliert, lauter. Verärgert dreht Clasen sich um und sieht in die verbissenen Gesichter der schweigenden Masse, die da auf ihn zugestürmt kommt.

Das knappe Dutzend meist grauhaariger Leute ist wetterfest gekleidet und rammt mit akkurater Regelmäßigkeit seine Stockpaare auf den nassen Straßenbelag – tack und tack, rechts und links … Zielstrebig kommt die Gruppe auf ihn zu gestapft und weicht keinen Millimeter vom Kurs ab. Der Pharmareferent springt beherzt zur Seite. Als der kleine Zug hinter einer Buchenhecke verschwunden ist, zerschneidet das melodische tack und tack immer noch die beschauliche Einsamkeit. Weiter draußen jault eine Schiffssirene auf.

Clasen überfliegt den Aushang mit den Abfahrtszeiten. ‚An Bord wird es trocken und warm sein‘, überlegt er und eilt auf die Dame mit den hängenden Mundwinkeln zu. Unverzüglich schnellen diese in die Höhe. „Einmal einfach, eine Station”, murmelt er mit schlotternden Knien. „Zurück laufe ich dann.”

„Ganz wie Sie wünschen”, säuselt die Ticket-Verkäuferin. Achtlos wirft sie das Wechselgeld aufs Drehbrett: „Schön’n Tach noch!” Ihre dünne Stimme schafft es kaum, das feine Geschepper der Münzen zu übertönen.

Mittlerweile macht das weiße Motorschiff lauter auf sich aufmerksam. Gleich wird es anlegen. Da ist es wieder! Das tack und tack kommt zurück, läuft direkt auf Clasen zu. Das laute Tuten des Signalhorns hat auch die rüstigen Senioren zur Schiffsreise animiert. Schnellen Schrittes eilen sie auf den Anleger zu – tack und tack, rechts und links …

Mit kräftigen Flügelschlägen stiehlt sich ein Schwan davon. Das beeindruckende Naturschauspiel, untermalt vom geräuschvollen Aufspritzen des Wassers, lenkt Clasen für einen Augenblick vom monotonen tack und tack der Nordic-Walking-Freunde ab. Und plötzlich stehen sie vor ihm. Ihre Stöcke schweigen jetzt, die Lungen können endlich ausatmen.

„Puh, ist das heiß”, stöhnt eine Rotwangige mit freundlichen braunen Augen. Dass sie Inge heißt, verrät ein Namensschild an ihrer Jacke: „Hoffentlich gibt es hier was zu trinken!”

„Ich brauch‘ jetzt auch ‘n Bier!”, japst einer ihrer Mitläufer.

„Heinrich, du sicherst uns die Plätze auf dem Sonnendeck”, plappert Heidi, eine apart zierliche Frau munter drauf los.

„Bei dem Sauwetter?”, mault Heinrich, der ebenfalls ein Namensschild an seiner Jacke stecken hat. „Für das kurze Stückchen lohnt sich das Sonnendeck ohnehin nicht.”

„Wir fahren nämlich nur bis Woffelsbach. Zurück laufen wir wieder.” Die Rotwangige zwinkert Clasen aufmunternd zu.

Tack und tack, tack und tack – schwirrt es durch dessen graumelierten Lockenkopf. Missmutig gibt er sein Vorhaben auf. Abermals zielt er den Kiosk der Flotte an und hält der Angestellten seine Fahrkarte hin: „Brauche ich nicht mehr.”

„Rücknahme nur bei Nichterbringung der Leistung”, knallt die Dame ihm um die Ohren. „Und unser Schiff wird fahren!“

„Okay, okay. Dann fahre ich halt bis zum Kermeter-Ufer.“

Laut lärmend rattert ein Maschinchen los, das prompt den Beleg ausspuckt. Clasen fischt ein paar Münzen aus seiner Gesäßtasche und geht kommentarlos zum Bootssteg zurück. Allmählich hat sich der Nebel gelichtet. Clasen kann bis zum anderen Ufer sehen und Enten beim Gründeln beobachten.

„Achtung! Es geht los!”, ruft einer der Walker aufgeregt, als die Stella Maris mit leisem Ruck gegen die Landebrücke prallt.

Nur zu gerne gewährt Clasen der quirligen Gruppe den Vortritt und wartet ab, für welches Deck sie sich entscheidet. Er findet ein zugiges Plätzchen hinter der Fahrerkabine. Zufrieden stellt er seinen Kragen hoch und genießt den Blick auf die herrliche Landschaft. Doch schneller als gedacht, hält er es in seinem luftigen Refugium nicht mehr aus. Missmutig schleicht er in den Gesellschaftsraum. Dort ist es zwar gemütlich warm, dafür aber umso geselliger. Das süffige Pils hat das seinige dazu beigetragen, die Zungen der Ausflügler zu lockern. „Welches Teilstück wollen wir nächstes Mal erkunden?”, fragt ein stämmiger Senior. Sein Gesicht strahlt Vorfreude aus.

„Nächstes Mal liege ich unterm Messer.” Die Rotwangige mit dem freundlichen Lächeln hebt bedauernd die Schultern. Für einen Moment verharrt die fröhliche Clique in betroffener Ratlosigkeit. Entsetzte Augen mustern das vertraute Gesicht.

„Ich habe ‘nen Knoten in der Brust”, flüstert Inge kaum hörbar. „Und der muss ganz flott weg.”

„Warum hast du denn nichts gesagt?”, haucht Rosi mit weit aufgerissenen Augen und legt den Arm um Inges Schultern.

„Ich wollte uns den wunderschönen Tag heut‘ nicht versauen.” Verstohlen drückt Inge ein winziges Tränchen platt: „Aber übernächstes Mal bin ich wieder mit dabei. Versprochen!”

Der hagere Hermann hebt sein Glas: „Na dann, Prost!”

„Auf Inge!” Margret, eine dürre Blondine, lässt ihr Pils sofort wieder sinken. Ihre Hände zittern, als habe sie Schüttelfrost.

In den folgenden Minuten ist nur das rhythmische Klatschen zu hören, mit dem die Wassermassen gegen die Bordwand schlagen. Tack und tack, rechts und links – hämmert es in Clasens Schädel. Diese lähmende Stille, die plötzlich durch das Schiff geistert – sie ist kaum zu ertragen.

Zum Glück hält das trostlose Schweigen nicht lange an. Bald schon lenkt ein Milan die Aufmerksamkeit der Passagiere auf sich. „Schaut euch diesen Räuber da drüben an!”, stößt ein Fahrgast aufgeregt aus. „Der frisst all unsere Gewässer leer.”

„Man muss auch gönnen können”, schmettert Inge ihm entgegen und erntet lautes Gelächter. Das übermütige Lachen, das den Walkern eben noch im Halse stecken geblieben war, wirkt befreiend. Auch Clasen lässt sich von der neu erwachten Heiterkeit anstecken: „Dann angeln wir unseren Fisch halt aus der Tiefkühltruhe!”

„Ich dachte schon, Sie hätten Ihre Zähne nur zum Beißen angezogen”, ruft Inge ihm mit lauter Stimme zu. „Dass Sie auch lachen können mit den Dritten …”

Abrupt steht Clasen auf, eilt zur Reling und beobachtet, wie der See immer gieriger am Schiffsrumpf leckt. ‚Bis zum Anleger werde ich noch durchhalten müssen. Dann bin ich endlich wieder frei‘, denkt er erleichtert.

Plötzlich hört er hinter seinem Rücken ein leises Räuspern. „Sorry, das mit den Dritten war nicht fair”, sagt eine weiche Stimme, die kräftig gegen den Wind ankämpfen muss.

Jan Clasen wirkt wie versteinert. „Frieden?”, fragt sie zaghaft.

Er dreht sich betont langsam um und blickt in ein braunes Augenpaar: „Von mir aus.”

Inge stützt sich mit beiden Armen auf die Reling und schaut in die Ferne: „Ich mag solche Tage”, gesteht sie unverhofft. „Sie riechen anders als Sommertage. Ich könnte von morgens bis abends hier auf dem See sein. Immerzu. Diese Stille …”

Da kommt es wieder angesprungen, dieses tack und tack, tack und tack, das Clasens Nerven vorhin so strapaziert hat. „Stille”, schnaubt er verächtlich. „Von Stöcken zerschlagen.”

„Walking schützt vor dem September-Blues“, kontert Inge.

Gleichgültig hebt Clasen die Schultern. Dennoch lauscht er jedem einzelnen ihrer Worte: „Ich war rastlos, immer munter Volldampf gegeben. Und plötzlich – zack!“

„Kenne ich.“ Seine Augen verfinstern sich: „Letzten Winter – Straße vereist. In die Sonne geschaut, Unfall gebaut. Lappen weg, Job web, Frau weg. Und als neulich so ‘n Schnösel hinter mir Schlappschwanz raunte, bin ich total ausgerastet.“

„Und? Ist dadurch was besser geworden?“

Jan schluckt: „Wie kommst du damit klar? Mit dem Knoten?“

„Ich lasse mich davon nicht unterkriegen. Von gar nichts. Kopp in den Nacken und durch! Komm nächstes Mal einfach mit uns. Ich leih‘ dir auch meine Stöcke.“




Monika Schlößer

Geboren 1949, lebt in Bad Münstereifel, verheiratet, 2 Töchter. Mittlerweile über 100 Veröffentlichungen von Lyrik, Kurzkrimis und Kurzprosa, in Anthologien, Kunst-Kalendern, Jahrbüchern, (Literatur)-Zeitschriften, Schaufenstern, auf einer Lyriksäule und bei online-Magazinen wie kunstkulturliteratur.com







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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