Rot im See

David M. Henne für #kkl34 „Klarheit“




Rot im See

Am Himmel zeichnet sich der sichelförmige Mond ab – das einsame Licht inmitten totaler Finsternis. Der See ist schwarz. Bei jedem Tropfen, den ich der Regnitz darbringe, rührt sich die Wasseroberfläche. Winzige Wellen werden ausgelöst, die sich in alle Richtungen ausbreiten. Es tropft. Von meinem Handgelenk in den Fluss. Von Luna zur Regnitz. Als würde ich einen Teil von mir dem Fluss geben. Als würde ich zu einem Teil der Regnitz werden, wenn all mein Blut dort hineingeflossen ist.

Das Sterben beginnt. Unsinnig, wie sich alle davor fürchten. Unsinnig, dass ich mich davor fürchte. Dabei ist es die letzte Reise. Das letzte Abenteuer. Sollte man das nicht genießen?

Meine Atmung wird langsamer. Ich drücke eine Hand gegen die Brust und spüre die verhaltenen Schläge meines müden Herzens.

Ein Tropfen fällt in den Fluss. Das Rot im See wird rasch entzerrt, so lange, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Doch schon folgt der nächste Tropfen, den das gleiche Schicksal ereilt.

Ich liege in Adams Fischerboot. Es ist hart und rau. Der Fischgeruch ist allgegenwärtig. Auf der anderen Seite des Bootes liegt das Fischernetz. Ich habe oft gesehen, wie er der Regnitz seine Bewohner raubt.

Ich sehe Adam in einem der Fischerhäuser, nur wenige Meter entfernt. Ich sehe seine Silhouette im obersten Stockwerk, sehe, wie er ein T-Shirt überstreift. Langsam schließe ich die Augen.

Ein weiterer Tropfen landet im Fluss. Gefolgt von einer Armada Kameraden. Ich lächle, denn ich mag diesen Ort. Ich wollte nicht, dass es zu Ende geht, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Manchen Menschen ist es erlaubt zu lieben, anderen nicht. Manche Menschen brauchen keine Liebe, um zu leben, doch ich kann nicht leben, ohne zu lieben.

Rot. Die Farbe des Blutes, gehüllt in Schatten. Es erinnert mich an die Dächer der Fischerhäuser. Ihr Rot ist heller, nicht so aufdringlich, wie das Blut das meine Hand herunterläuft. Ein Blumenmeer erhebt sich vor den Häusern. Rot, lila, rosa, blau. Farben, die auf einer grünen Leinwand getragen werden.

Langsam wippe ich mit dem Kopf hin und her, hin und her, hin und her. Rosen werden zu Pinselstrichen. Lilien zu Farbtupfern. Lavendel zu Kompositionen. Die strahlend grünen Büsche, die Deutschlandfahne, die schlapp an einem Mast hängt, und das geschäftige Treiben der Fischer, die just in diesem Moment die Lichter in ihren Häusern einschalten, erinnern mich an Adam.

Adams Tür öffnet sich schwerfällig. Er wird sich erschrecken, wenn er mich in seinem Boot liegen sieht, die Pulsader der rechten Hand mit seinem Fischermesser aufgeschlitzt.

Die Klinge liegt neben mir. Sie ist mit meinem Blut besudelt, liegt zwischen den Paddeln. Die Bilder beginnen zu verschwimmen. Ich halte eine Hand an meine Stirn. Die Dunkelheit ist mein Zeuge. Das Blut ist mein Richter.

Adam, ich will nicht, dass du es mit ansiehst. Nein, geh weg, geh weg.

Er geht nicht weg. Er wird nicht gehen. Er rennt. Sein Rucksack rutscht von seiner Schulter und fällt zu Boden, als er lossprintet. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Dazu ist zu viel von mir in die Regnitz geflossen.

Er schreit. Wie schnell er ist! Mir kommt es so vor, als würde ein Blitz auf mich zuschießen. Adam, mühst du dich für mich? Bedeute ich dir so viel? Ich lächle. Ich möchte es nicht, denn ich hasse es, dabei zuzusehen, wie Adam der Verzweiflung erliegt, aber ich kann nicht anders.

„Luna!“

Mein Name. Er schreit ihn aus vollem Halse.

„Ich bin hier“, sage ich, doch meine Stimme erreicht ihn nicht. Ich bin schwach. Meine Stimme ist schwächer. Adams Hysterie übertönt meine Laute.

„Luna, was hast du getan?“

Was ich getan habe? Ich sehe zu Boden, doch selbst die Planken des Bootes verschwimmen.

Du Narr. Ich schenke dir eine Zukunft. Du dummer, liebenswerter Narr.

Ich höre, wie er das Wasser erreicht. Wie seine Füße in den Fluss stapfen. Hoch zieht er sie und nieder lässt er sie sausen. Ich höre das Platschen eines jeden Schritts. Das Boot wird sanft vom Ufer getrieben. Ich habe es losgemacht, aber es ist windstill. Es ist nicht weit gekommen.

Ein Tropfen landet im Wasser. Zögerlich folgt ihm ein Bruder. Der Strom versiegt. Es kann keine Zukunft geben, denn mein Blut hat mich verraten. Ich gebe es der Regnitz. Hier, vor den Fischerhäusern, vor Adams Haus. Auf dass der Fluss es reinigen möge.

Adam wirft sich ins Wasser. Er schwimmt mit groben Zügen. Wasser steigt um ihn herum auf. Um seine Arme, um seinen Kopf, der auf- und abtaucht, auf- und abtaucht, dabei Wasser prustend, und wieder auf- und abtaucht. Ich sehe, wie er das Boot berührt.

„Luna.“

„Du Narr.“ Meine Worte sind ein Flüstern.

Er kommt, doch ich will nicht, dass er kommt. Er sollte es nicht sehen. Er sollte das Ergebnis sehen, das Resultat, die Abrechnung. Er sollte mir keine Fragen stellen. Warum? Weshalb? Wieso? Keine Fragen für Luna.

Tränen bilden sich in meinen Augen, als Adam seinen Körper auf das Boot hievt. Er ist durchnässt und atmet hechelnd, kommt auf mich zu. Sein Herz ist stark. Hastige Hiebe in seiner Brust, drei schnelle Schläge, eine kurze Pause, dann wieder drei Schläge. Ich erinnere mich an sein lebensfrohes Herz.

Mein Herz ist anders. Es klopft kurz an, macht einen langen Moment Pause, und erzwingt ein weiteres Klopfen. Es braucht Blut. Dabei wurde es durch jenes Blut verraten. Ebenso wie Adam. Ich lasse ihn nicht untergehen. Ich bin verdammt. Nicht so Adam.

Er hat eine Zukunft. Er hat ein Leben.

Mit diesem Gedanken lässt es sich sterben. Ich lächle und lehne mich zurück. Ein Tropfen fällt auf mein Gesicht.

Adam steht über mir. Ich sehe seine Silhouette. Sein Gesicht wird von Schatten verborgen.

„Luna … all das Blut …“

Adam beugt sich zu mir herunter. Ich hebe meine Hand, berühre seine Wange.

Er hat sich rasiert, doch ich kann die Stoppeln spüren.

„Luna …“

„Lass mich …“

„Das kann ich nicht.“

„Es muss sein.“

Doch Adam hört mich nicht. Er reißt ein Stück von seinem T-Shirt ab. Dann nimmt er meine blutige Hand. Ich hasse es, denn nun tropft mein Blut auf das Boot und nicht mehr in den Fluss. Adam verbindet die Wunde. Ich will mich wehren, doch mehr als ein kurzes Aufbäumen meiner verwundeten Hand kriege ich nicht zustande. Sanft drückt Adam mir einen Kuss auf die Stirn.

Er ist so nah bei mir, aber ich kann sein Gesicht nicht sehen. Die Schatten sind überall. Sie wollen mich holen. Mich, deren verräterisches Blut droht, andere zu verpesten.

„Es ist verseucht. Mein Blut …“ Ich weine. „Mein Blut ist verseucht.“

„Luna …“ Er hält mein blutiges Handgelenk fest.

„Tu das nicht“, sage ich.

„Ich will es.“

„Glaub mir, du willst es nicht.“

„Das ist nur Blut.“

Ich will meine Hand befreien, doch Adam hält sie fest. „Ich werde dich nicht gehen lassen, Luna.“

„Mein Blut ist verseucht.“

„Ich werde dich nicht gehen lassen.“

Ich seufze. Es hat keinen Sinn mehr, zu schweigen.

„Ich habe Aids.“ Die Worte hängen wie ein Schleier zwischen uns. „Ich habe keine Zukunft.“

Adam sieht mir in die Augen. Dann blickt er auf den Stofffetzen, den das Blut rot färbt.

„Ich werde sie dir geben.“

„Nein, Adam … bitte, mach es nicht noch schwerer …“

Adam umfasst meine Hand mit beiden Händen. Blut sickert heraus.

„Du wirst dich anstecken. Du wirst … du wirst dich …“

„Pst.“

„Ich … ich will sterben. Nur ich … nur ich …“

„Ohne mich?“

„Ohne dich.“

Adam küsst meinen Handrücken. „Du willst nicht sterben.“

„Das … das will ich.“

„Du irrst dich.“

„Ich hätte sterben sollen.“ Tränen laufen meine Wangen herab.

„Wenn du wirklich sterben wolltest, warum hast du es dann getan, als meine Schicht begann?“

Mein Blick klärt sich. Ich sehe die Narben, die Adams Gesicht zieren. Ich nehme sie zum ersten Mal seit Jahren wahr. Er wendet beschämt den Kopf zur Seite. Ich nehme sein Gesicht in meine Hände und lächle.

Dummer, liebenswerter Adam.





David M. Henne, 1987 geboren, arbeitete als Industriekaufmann im Automotive-Sektor und als Lehrer in Wuppertal und Remscheid. Auf Basis seiner Lehrertätigkeit, in der er auch Projekte zum kreativen Schreiben leitete, stehen in seinen Werken vielschichtige Charaktere und eine gnadenlose Kompromisslosigkeit der Handlung im Vordergrund. Neben literarischen Veröffentlichungen in Anthologien arbeitete er schon früh an eigenen Romanen im Thriller-Genre. Zu seinen in verschiedenen Genres tätigen Vorbildern gehören Horrorlegende Stephen King, Realsatiriker John Niven und Altmeister Ernest Hemingway.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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