Birgit Ramon für #kkl35 „Erwachen“
Du stirbst noch nicht
Gut zu wissen und ich wache auf und ich schlafe wieder ein, weil es noch dunkel ist und ich so müde bin und weil ich alleine bin und Pierre, mein lieber Pierre.
Ich warte auf die Wirkung der Spritzen, die jetzt bald eintreten soll, weil ich so Schmerzen habe und weil ich sowieso am Sterben bin.
Vor dem Fenster öde Landschaft, flach, Bäume ohne Blätter, norddeutscher Nebel, wie in dem Film gestern im Ersten. Und ich bin sterbenskrank, warte auf den Tod. Und ich bitte um Spritzen. Ich liege wohl in einem Krankenhaus, oder zuhause, das kann auch sein.
Ron ist da, wir streiten. Er meint, die Dosis, die ich bekam oder bekommen hatte oder bekommen sollte, die würde reichen. Aber ich will mehr, ich will das Sterben nicht merken, will hinüberdämmern in den Tod. Denke an Vater und Mutter, die beide den Tod auch mit Medikamenten erlebt haben, die ihnen das Sterben erleichtern sollten.
Nur bei Pierre war es anders.
Da jetzt nicht dran denken.
Das will ich jetzt nicht. Da ist schon diese Salzkruste am Auge, habe eine Salbe dagegen. Die habe ich aber nicht regelmäßig genommen, und dem Arzt habe ich auch nicht gesagt, dass vielleicht die Stippen, diese krusteligen Hauterhebungen, dass die vielleicht vom vielen Weinen kommen.
Einmal habe ich bei ihm einen roten Fleck wegmachen lassen. Das Gesicht glätten, es bereinigen. Kurz nach Pierres Tod war das, in einer der manischen, der spinnerten Phasen, in der man magisch denkt und fühlt. Magisch und manisch, als würde das am Tod etwas ändern. Der Fleck war eine Spur aus der Zeit, als ich noch glücklich war, als Pierre noch lebte.
Das Tieftraurige kommt auch in Phasen. So wie heute Nacht. Sterben, Abschiednehmen von der Welt. Warum nicht. Andere haben es auch geschafft, sind gegangen, über diese Schwelle, in ein anderes Leben, nein, kein Leben, in einen anderen Zustand. Zu Pierre. Zu meinem lieben Pierre. Ich könnte zu Pierre gehen.
Und als ich dann endlich aufwache, ganz aufwache, da bin ich doch auch wieder froh. Oh, ich muss gar nicht sterben. Nein, du stirbst noch nicht. Weil ich mich so lebendig fühle, so stark atme, mein Herz, mein Blut in den Gliedern, mein Körper. Ich fühle mich stark.
Und ja, da hätte es wohl eine größere, eine stärkere Dosis gebraucht, um das zum Erliegen zu bringen.
Birgit Ramon, geb. 1956 in Norddeutschland, wohnt seit 20 Jahren in Oberbayern. Selbständige Beraterin; Fachpublikationen in den Bereichen Weiterbildung, Coaching und Personalentwicklung. Verwaiste Mutter; erfolgreiche Erfinderin von Tiergeschichten für ihre Großnichten und -neffen.
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