Joe Molao für #kkl35 „Erwachen“
Ria
Feuchte Kälte kriecht durch die Wollweste, überwindet den feinen Stoff des Langarmshirts und erobert meine Knochen. Ich ziehe die Daunendecke über die Körpermitte und hauche warme Luft auf die Hände.
Während die Hollywood-Schaukel unter den sanften Schwingungen scheuert, realisiere ich, dass ich seit Wochen, vielleicht sogar Monaten, keiner anderen Menschenseele begegnet bin. Trostlos verkümmere ich hier in der Einöde. Warum? Das weiß selbst Gott nicht, falls es ihn denn gibt.
Plötzlich erdrückt mich die Einsamkeit. Sie schnappt nach meinem Herzen und presst es unerbittlich zusammen. Droht den letzten Rest Lebens herauszuquetschen. Lässt die Sehnsucht nach meinem beschützten Zuhause zu einem unbändigen Gefühl heranwachsen.
Den Gedanken nachgehend, haftet mein Blick auf dem majestätisch dahinfließenden Fluss, der an den vernachlässigten Vorgarten grenzt. Bis eben noch hat sein Grollen die eintönige Melodie der Hollywood-Schaukel begleitet. Krähen haben gekrächzt. Laub hat geraschelt. Doch nun ist mir, als würde jeder Laut in sich erstickt. Nur die Hollywood-Schaukel singt adagio weiter ihr klagendes Lied. Quietsch. Quietsch. Quietsch.
Mein Brustkorb hebt und senkt sich unnatürlich stark. Die Luft schmeckt trocken und metallisch. Sie weckt eine Erinnerung. Oder ist es ein Déja-vu aus einem anderen Leben? Vor meinem geistigen Auge sehe ich ein Wrack, viele kleine Fische, zwei Taucher – ich und eine Person, die ich kenne, aber nicht zuordnen kann. Wie bei einer nichtverstandenen Filmszene, spult auch diese Rolle weiter und das Bild verschwindet in den Tiefen der Bedeutungslosigkeit.
Ich raffe mich auf. Das Klagelied der Hollywood-Schaukel geht dabei von einem Adagio in ein Moderato con dolore über. Wie eine Braut, die zum Altar schreitet, nähere ich mich dem Fluss. Am steinigen Ufer bleibe ich stehen. Frostiger Wind streift mein Gesicht, als küsse er mich willkommen.
„Ria“, flüstert eine kratzige Stimme meinen Namen. Ihr eisiger Ton treibt mir einen Schauer über den Rücken.
Alles in mir ruft nach Flucht. Ich wünsche mich zurück auf die Veranda, wo es zwar einsam, aber sicher ist. Doch noch bevor ich den Gedanken zu Ende führen kann, folgt das Wasser einem lautlosen Befehl und öffnet eine Pforte, hinter der mich ein rubinrotes Augenpaar anstarrt.
Ich verharre in der Hoffnung, dass dieses Wesen sein Interesse an mir verliert. Den Atem halte ich flach. Dennoch hört sich jeder Atemzug viel zu laut an. Im Stillen bete ich zu einem Gott, an den ich nicht einmal glaube.
Doch dann bewegen sich die feurigen Augen und es erhebt sich ein schleimiges Schlangenwesen. Mit weit angehobenem Oberkörper baut es sich vor mir auf. Wassertropfen fallen vom Kopf herab. Leises Knurren begleitet das rasche Vorschnellen seiner ledrigen, gespaltenen Zunge.
Dann umkreist mich das Untier. Ich will schreien, laufen. Bleibe aber in meinem bewegungslosen Körper gefangen. Hilflos muss ich mitansehen, wie es sich an meinen Beinen hochwindet. Fauchend schlängelt es sich zu meinem Gesäß. Es umschließt meine Taille, die Brust, die Schultern.
Ich möchte mich wehren, doch selbst wenn mir meine Gliedmaßen gehorchen würden, wäre ich machtlos gegen dieses Ungetüm. Es kräuselt sich um meinen Hals. Drückt auf meinen Kehlkopf. Ich röchle. Winsle. Eine stille Träne löst sich.
Mit einem Ruck zieht mich der Dämon mit sich in den Fluss. Nicht mehr als ein hilfloses Quäken entkommt mir, bevor ich die Luft anhalte. Augen und Lippen presse ich fest zusammen, während mich dieser Albtraum immer tiefer mit sich nimmt. Wasser dringt in meine Nase. Geröll reizt meine Haut. Feuchte Erde reibt wie Schmirgelpapier an mir. Etwas Spitzes kratzt an meinem Handrücken.
Dann ist da nichts. Luft. Ich kann wieder atmen. Eine peitschende Bewegung gibt mich frei. Ich rolle über erdigen Boden. Keuche. Ringe nach Luft. Meine Knochen schmerzen. Die Haut ist aufgeschürft und brennt. Es riecht modrig. Feucht. Nach Verwesung.
Ich streife mein langes, blondes Haar nach hinten und öffne die Lider. Dumpfes Stöhnen dringt an meine Ohren. Dieses eintönige Brummen geht mir durch Mark und Bein. Kauernd hocke ich in der Mitte eines breiten, erdigen Ganges, der sich zu beiden Seiten ausdehnt. Das Monster ist verschwunden. Dafür befehlen die eingekerbten gesichtslosen Masken in den Wänden meinen Härchen stramm zu stehen.
„Kämpfe!“, hallt es von ihnen.
Ohne zu zögern, renne ich los. Dabei weiß ich nicht einmal, ob ich in die richtige Richtung laufe. Ob es überhaupt ein Richtig oder Falsch gibt.
Die Höhle erstreckt sich unendlich weit. Der feucht faulige Gestank hat sich mittlerweile auf meine Zunge gelegt. Sie schmeckt bitter und fühlt sich pelzig an. Ich laufe immer noch. Laufe so schnell ich noch nie gelaufen bin. Gespenstisches Säuseln saust immer wieder an meinen Ohren vorbei. Jedes Mal zucke ich zusammen und wische es reflexartig mit einer Handbewegung weg.
Die stickige, abgestandene Luft brennt in meiner Kehle. Meine Seite sticht. Ich bleibe stehen. Fülle meine Lungen. Versuche durch tiefe Atemzüge den Puls zu regulieren. Gönne meinen Beinen eine kurze Rast.
Als ich mich wieder zum Gehen aufraffe, bleibt mein Blick an den grotesken Gesichtern der Wand hängen. Ich erstarre. Die gesichtslosen Gesichter sind nicht mehr gesichtslos.
Ich wage einen Schritt näher und betrachte eines genauer. Die Gesichtszüge sind merkwürdig verzerrt und dennoch kommt es mir wohlbekannt vor. Trauer liegt in den Augen. Verlorengegangene Hoffnung. Ein erdiger Klumpen löst sich von der Lidkante, kullert über die Wange und schlägt dumpf auf dem Boden auf.
Der Mund öffnet und schließt sich mit abstrusen Bewegungen.
„Komm zurück“, fleht es und der vertraute Klang versetzt meinem Herzen einen Stich.
Ich torkle rückwärts. Schnappe nach Luft. Versuche zu begreifen, was hier geschieht. Quietsch, quietsch, quietsch verfolgt mich dieses elendige Geräusch wie ein nerviger Tinnitus. Ich lege die Hände auf meine Ohren und schließe die Augen. Kreischend falle ich auf die Knie. Was ist hier los? Wie kann ich diesem Irrsinn entkommen?
Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Durchzudrehen bringt nichts.
„Es gibt einen Weg aus dieser Hölle“, wiederhole ich wie ein Mantra, bis sich meine Nerven beruhigen.
Einen weiteren Blick auf die Gesichter wage ich nicht. Das muss ich auch nicht. Ihr Flüstern bestätigt mir ihre Anwesenheit.
„Komm zurück.“ Was auch immer das bedeutet.
Mit einem tiefen Seufzen folge ich dem einzig möglichen Weg und gehe weiter den Tunnel entlang.
Es dauert nicht lange, bis ich auf ein grell leuchtendes Portal stoße. Ich blicke zurück. Hinter mir beherrscht die Finsternis wieder den Raum. Ein Schauer kriecht über meinen Nacken. Ich trete ins Licht.
Der sterile Geruch von Desinfektionsmittel steigt mir in die Nase. Piep. Piep. Piep. Ich blinzle durch die verklebten Wimpern hindurch und presse sogleich die Augenlider wieder zusammen. Zu stark blendet mich die ungewöhnlich grelle Beleuchtung der Deckenlampe.
„Sie ist wach“, vernehme ich die weinerliche Stimme meiner Mutter.
Ich möchte etwas sagen, doch meine Zunge klebt am ausgetrockneten Gaumen. Die Lippen sind rissig und rau. Ein Schlauch steckt in meinem Rachen.
Eine Träne löst sich und rinnt über mein Gesicht. Warme Lippen küssen sie weg.
„Ruft einen Arzt. Sie ist wach.“

Joe Molao wurde 1980 in Laa an der Thaya geboren, wo sie heute wieder mit ihrem Ehemann lebt. Nach absolvierter Matura an der Handelsakademie lebte sie mehrere Jahre in Kitzbühel, Tirol. Seit 2013 arbeitet Doris Neumayer als Pädagogin und unterrichtet seit 2014 an der Mittelschule Gaweinstal Englisch, Physik und Chemie.
Vor einigen Jahren tauchte Doris Neumayer in die Welt der Schriftsteller ein. Seit Jänner 2023 stellt sie ihre Bücher auf Wattpad online. Zu ihren Werken zählen die beiden Kinderbücher „Antons Abenteuer“ und „Supermechaniker Toni“, das Fantasy-Drama „Wenn Götter den Glauben verlieren“ (etwa 500 Seiten, noch nicht abgeschlossen) und die Science-Fiction-Novella „Verräter des Friedens“ (210 Seiten). Letzteres schaffte es beim Wattpad Open Novella Contest auf die Longlist.
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