Britta Heidland für #kkl35 „Erwachen“
Das Erwachen – Inspiriert durch Franz Kafkas „Die Verwandlung“
Als Gregor S. eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich nicht wie sonst vollkommen mit seinem Körper verschmolzen in seinem Bett wieder, sondern das, was Gregor S. als Gregor bezeichnen würde, hatte einen gewissen Abstand zu seinem Körper, da war ein Raum, ein Spalt, ein Feld zwischen all dem, was Gregor eigentlich für seine Person gehalten hatte und dem, was er nun tatsächlich war. Gregor kam es vor, als wäre er nicht mehr etwas Körperliches, Schweres, sondern eher etwas Wissendes, Schauendes, Wahrnehmendes, das nun hinter seiner Stirn hockte und gegen die geschlossenen Augenlider schaute. Gleichzeitig spürte er ein leichtes, bisher nie wahrgenommenes Vibrieren unter seiner Schädeldecke und ihm war, als hätte jemand den Felsbrocken, unter dem er jahrelang gelegen haben muss, soeben von seiner Brust gerollt.
Normalerweise verhielt es sich anders. Normalerweise verhielt es sich so, dass sein Bewusstsein morgens in seinen Körper glitt und dann vollkommen verbunden war mit seinen Händen, seinen Füßen mit Haut und Haaren. Normalerweise knüpfte auch die Erinnerung sofort an den vergangenen Abend an und damit an Gregors gesamte Lebensgeschichte. Aber heute war da keine Geschichte und damit auch keine Vergangenheit und keine Zukunft. Da war kein Gedanke, sondern Leere, angenehme Dunkelheit, Stille und Raum.
„Ach Gott“, hätte er denken können, “was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise.“ Aber da war kein Gedanke. Er dachte auch nicht an das unregelmäßige, schlechte Essen unterwegs oder an die mangelnden Freundschaften in seinem Leben. „Ich müsste den großen Schnitt machen. Der Teufel soll das alles holen! “, hätte er denken können. Doch keiner dieser Gedanken stellte sich ein. Stattdessen betrachtete er seine Augenlider von hinten und fühlte, wie Luft in die Lungen seines Körpers floss und wie Luft seine Lungen wieder verließ. Er bemerkte, dass sich seine Bauchdecke hob und senkte. Sein Körper lag auf dem Bett, friedlich, ruhig atmend. Man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen. Und Gregor kam es vor, als hätte er nie etwas schöneres gehört, etwas Rhythmischeres, Lebendigeres, Fröhlicheres und er bemerkte, wie sich seine Mundwinkel leicht nach oben bogen und ein Lächeln auf seinem Gesicht entstand. Gregor lag da ohne Gedanken, ohne Geschichte, vollkommen verankert in der Gegenwart.
„Gregor“, rief es plötzlich. Die Mutter warf ihre Worte in Gregors Stille hinein, wie einen Stein ins Wasser. „Es ist dreiviertel sieben. Wolltest du nicht wegfahren?“ Ohne den Sinn dieser Worte zu verstehen und ohne sich um ihre Bedeutung zu bemühen, konnte Gregor wahrnehmen, wie sich leise, kreisrunde Wellen in ihm ausbreiteten. Ein Hauch von Sanftheit klang in ihm an und wieder konnte er spüren, wie seine Mundwinkel sich leicht nach oben zogen. „Gregor, Gregor“, rief dann der Vater. „Was ist denn?“ Der Vater klopfte schwach, aber mit der Faust und etwas in Gregors Körper zog sich zusammen. Gregor konnte genau sehen, wie eine weiße Hand sich um sein Herz legte, als wollte sie sein Herz zerquetschen. Gregor behielt die Sache im Blick und sah, dass da keine Angst war. Da war auch keine Wut und kein Hass, sondern das, was da weh tat, war reines, weißes Mitgefühl mit diesem schwachen Klopfen dieser kleinen Faust dieses kleinen Mannes. Gregor fühlte die Gegenwart seines Vaters hinter dem Klopfen der kleinen Faust. Festgefahren in alten, autoritären Rollenbildern, unbeweglich, wie ein Käfer auf dem Rücken. Tränen füllten Gregors Augen und ihm war auf einmal, als könnte er die gesamte väterliche Kleinheit, seine Bedeutungslosigkeit greifen und begreifen. Und es war Gregors Kleinheit und gleichzeitig die seines Vaters und die war die seines Großvaters und seines Urgroßvaters und dann spürte Gregor, dass all diese Väter lediglich weiche, verwundbare Geschöpfe in einer Hülle aus Chitin, gezimmert aus Gedanken, Vorstellungen und Mustern waren. Und ehe er noch etwas sagen konnte, klopfte die Schwester an die Tür: „Gregor? Ist dir nicht wohl? Brauchst du etwas? Gregor, mach auf, ich beschwöre dich.“ Aber Gregor antwortete nicht. Denn er bemerkte, wie sich in seinem Verstand nun eine Gedankenform bildete. Er sah, wie diese sich vollsog mit Anziehungskraft und dann beinahe seine gesamte Aufmerksamkeit benötigte. Eine Stimme zog durch den Raum seines Kopfes und er hörte, wie es in ihm sprach: „Was ist mit mir geschehen?“ Doch sein Verstand hatte kein Verständnis, konnte kein Konzept konstruieren oder sonstige Erklärungsversuche anbieten. Und so lief die Frage ins Leere und erzeugte statt einer Antwort weiteres langes Schweigen.
Dann öffnete Gregor die Augen einen Spalt und sah zur Weckuhr hinüber, die auf dem Kasten tickte. Er schaute auf die Uhr, konnte aber die Uhrzeit nicht erkennen. Er sah zwar die Zeiger und auch die Zahlen, sein Hirn weigerte sich aber, diese in bedeutende Informationen zu verwandeln.
Dann setzte er sich auf und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Es lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Und doch kam es ihm vor, als sähe er alles zum ersten mal. Über dem Tisch, auf dem eine Musterkollektion von Tuchwaren seiner letzten Reise ausgebreitet war, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame mit Pelzhut und Pelzboa dar und ihm war, als ginge ein geheimes Leuchten von diesem Bild aus. Ihm war, als würde das ganze Bild von innen heraus strahlen und überhaupt sah alles seltsam verzaubert aus. Sein Schreibtisch, der schlichte Teppich auf dem Boden. Er sah rüber zum Fenster. Obwohl man das Wetter als trübe hätte bezeichnen können, sah Gregor doch in jedem Regentropfen ein Schimmern, ein Leuchten, ein Leben und ihn durchfuhr die Gewissheit, dass jeder Regentropfen genau an dem Ort gebraucht wird, an dem er niederfällt. Und wieder dachte es in ihm: „Was ist mit mir geschehen? Nie zuvor ist mir diese kosmische Ordnung aufgefallen. Dieses geheime Leuchten in allen Dingen.“ Und tiefe Dankbarkeit stieg in ihm auf und eine Demut überfiel ihn, die ihm wieder die Tränen in die Augen trieb und er ließ sich zurück in sein Bett sinken, als es an der Wohnungstür läutete.
Einen Augenblick blieb alles still. Gregor hörte dann, wie das Dienstmädchen festen Schrittes zur Tür ging und öffnete. Gregor brauchte nur das erste Grußwort des Besuchers zu hören und wußte schon, wer es war – der Prokurist selbst und Gregor horchte auf die Vorgänge im Zimmer vor seiner Tür.
„Gregor, der Prokurist ist da.“ Aus dem Nebenzimmer rechts flüsterte die Schwester, um ihn zu verständigen. In ihrer Stimme schwang eine gewisse Dringlichkeit, aber Gregor blieb trotz der mahnenden Worte der Schwester einfach auf seinem Rücken liegen. In seinem Kopf zog sich etwas zusammen, wie ein Gewitter über dem Meer. Bündel von Gedanken, Bildern und Gefühlen setzten sich zu einem mentalen Film zusammen, der sich vor seinem inneren Auge aufbaute. Intuitiv wusste Gregor, dass hier der verborgene Schlüssel zur Klärung seiner neuen Wahrnehmung liegen muss. Und Gregor erinnerte sich jetzt. Er hatte geträumt, sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt zu haben. Die Bilder standen ihm klar vor Augen, große Bilder, bunte Bilder, Bilder mit einer großen Anziehungskraft. Er sah, wie er selbst auf seinem panzerartig harten Rücken lag. Er betrachtete seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke kaum noch halten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. Gregor war klar: Es war kein Traum! Es war eine Erinnerung und trotzdem hatten die Bilder nichts von ihrer emotionalen Aufladung verloren. Gregor betrachtete den riesenhaften Käfer und bemerkte, dass die, von seinem Gehirn erzeugten Bilder, langsam auf sein Herz sanken. Als ob jedes Bild dort eine eigene Saite anschlagen könnte, wie ein Zupfen auf einer Gitarre, brachten die Bilder in ihm etwas zum Schwingen, aber es waren keine Töne, die die Bilder anschlugen. Es waren Gefühle. Und in Gregors innerem Raum klang nun eine alles überragende Scham und ein zerfleischender Selbstzweifel an. Er schaute weiter auf die Bilder. Ohnmacht, Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit hatten sich in ihm zu einem harten, glänzenden Panzer verdichtet. Doch der Panzer gab keinen Schutz. Ganz im Gegenteil. Er war die manifestierte Verletzlichkeit selbst. Als Gregor das begriff, ließ er sich in seinem Käfersein nicht mehr aus den Augen. Er betrachtete den Käfer mit all seiner Kraft, wiegte ihn in seinem Herzen, streichelte ihn sanft mit seiner Aufmerksamkeit, liebte ihn ganz und dann endlich sah er, wie der Käferkopf ohne seinen Willen gänzlich niedersank und aus seinen Nüstern sein letzter Atem schwach hervor strömte. Dann erwachte Gregor und sein Selbst schlüpfte am frühen morgen, wie ein Schmetterling aus dem Cocoon.
Im Nebenzimmer war es inzwischen ganz still geworden. Vielleicht saßen die Eltern mit dem Prokuristen am Tisch und tuschelten, vielleicht lehnten alle an der Türe und horchten. Gregor konnte es nicht sagen und es war ihm auf ganz neue Art und Weise auch vollkommen gleichgültig. Er spitzte die Lippen, pfiff ein Liedchen vor sich hin, zog sich an und öffnete die Tür.
„Gregor“, sagte die Mutter, „da bist du ja. Ist dir nicht wohl? Sieh her, der Herr Prokurist ist da.“
„Der Herr Prokurist ist gekommen und erkundigt sich, warum du nicht mit dem Frühzug weggefahren bist“, sagte der Vater. „Er will auch mit dir persönlich sprechen.“
„Aha“, sagte Gregor und schaute aus einem alten Reflex heraus zu Boden.
„Ich staune, ich staune“, meinte der Prokurist. „Ich glaubte Sie als einen ruhigen, vernünftigen Menschen zu kennen, und nun scheinen Sie plötzlich anfangen zu wollen, mit sonderbaren Launen zu paradieren.“
Gregor suchte nach den üblichen Reaktionen, die er bei solch einer Ansprache für gewöhnlich zeigte. Angst, schlechtes Gewissen oder Einschüchterung, doch in ihm blieb alles ganz ruhig. Dann schaute er auf, kniff dabei die Augen zusammen und neigte in der Hoffnung, den Prokuristen nun besser hören zu können, den Kopf etwas nach vorne.
„Was machen sie denn da?“, fragte der Prokurist. „Haben Sie auch nur ein Wort verstanden?“
„Nein, Herr Prokurist“ sagte Gregor und schüttelte den Kopf. „Wissen sie, mein Verstand hat über Nacht anscheinend seine Machtposition und Vorherrschaft aufgegeben und es ist noch sehr ungewohnt für mich, mit so viel reiner Gegenwart umzugehen. Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein. Das dürfen sie mir glauben, aber mein Zustand ist ausgesprochen neu für mich“ und Gregor kicherte etwas, weil ihm alles so absurd vorkam.
„Ich sehe Ihren unbegreiflichen Starrsinn und verliere ganz und gar jede Lust, mich auch nur im geringsten für Sie einzusetzen.“ Der Prokurist stützte jetzt die Hände in die Hüften und stellte sich breitbeinig vor Gregor auf. „Ihre Leistungen in der letzten Zeit waren sehr unbefriedigend. Und Ihre Stellung ist durchaus nicht die festeste.“
Gregor schaute den Prokuristen mit großen, runden Augen an. Seine Rede perlte an ihm ab, wie Wasser auf Wachs. Kein Wort hatte auch nur einen Funken Macht über Gregor, der einfach im Wohnzimmer stand und sich frei fühlte.
Jetzt fiel Gregor auf, dass auch hier alle und alles von einem geheimnisvollen Leuchten durchdrungen war. Wieder kniff er die Augen zusammen. Warum hatte er das vorher nie bemerkt? In allen Gegenständen und Personen sah Gregor ein helles Licht scheinen, alles leuchtete, als wären in allen Dingen kleine Sonnen verborgen und das Licht, das aus den Dingen kam, schien weit über die Körpergrenzen hinaus zu stahlen, so dass es Gregor vorkam, als sei alles mit allem verbunden und über feine Lichtfäden miteinander verwoben.
In diesem Moment kam der Prokurist einen Schritt auf Gregor zu und legte seine Hand auf Gregors Schulter: „Es ist zwar nicht die Jahreszeit, um besondere Geschäfte zu machen, das erkennen wir an“, sagte der Prokurist. „Aber eine Jahreszeit, um keine Geschäfte zu machen, gibt es überhaupt nicht, Herr S. Darf es nicht geben.“
Und Gregor staunte. Das dunkle Auftreten des Prokuristen kam ihm in Verbindung mit dem herrlichen Leuchten, das ihn umgab, so possierlich vor, so urkomisch abstrus, einem überirdischen Kasperletheater nicht unähnlich, dass er die Hand des Prokuristen von seiner Schulter strich, zu lachen anfing und eine Zeit lang nicht mehr damit aufhörte. Es war ein tiefes Lachen, ein altes Lachen, ein ewiges Lachen, ein erkennendes Lachen, das da aus ihm herausbrach und sich wonnevoll in das gesamte Wohnzimmer hinein ergoss.
Der Prokurist sah indes ratlos von Einem zum Anderen, dann fragte er die Eltern: „Er macht sich doch wohl nicht einen Narren aus uns?“
„Um Gottes Willen“, stieß die Mutter hervor. Der Vater klatschte in die Hände: „Rasch einen Arzt.“ Aber Gregor war viel ruhiger geworden.
„Nein, Vater“, sagte Gregor, sich die Tränen der Freude langsam aus den Augen wischend. „Ich bin nicht krank. Weder brauche ich einen Arzt, noch halte ich jemanden zum Narren. Jetzt nämlich“, fuhr er fort, während er schon zur Garderobe ging, um sich Hut und Mantel zu nehmen, „wird der große Schnitt gemacht.“ Und Gregor sah seinem Vater direkt in die Augen.
„Aber Gregor, wo willst du denn hin?“, die Schwester versuchte ihn noch zu halten. „Ins Freie“, sagte er und schob sie zur Seite. Dann zog er den Mantel an, verneigte sich kurz vor den Eltern und dem Herrn Prokuristen, setzte seinen Hut auf, verließ die gemeinschaftliche Wohnung und fuhr mit der Elektrischen ins Freie vor die Stadt. Und der Wagen, in dem er saß, war ganz von warmer Sonne durchschienen. Bequem auf seinem Sitz zurückgelehnt überdachte er nun die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, dass diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren.
Britta Heidland ist 1971 in Gütersloh geboren worden und hat nach dem Abitur Deutsch und Philosophie studiert.
Nach dem Studium hat sie einige Jahre an verschiedenen Gymnasien unterrichtet, bis sie sich 2006 mit ihrem Mann, dem Diplom Biologen Oliver Rautenberg selbstständig gemacht hat. Gemeinsam leiten sie die Seifenmanufaktur St. Annen, eine Firma für plastikfreie und vegane Naturkosmetik.
2003 ist ihre erste Tochter Josi geboren worden, 2009 die zweite Tochter Pippa.
Seit 2017 arbeitet Britta Heidland vermehrt an literarisch-philosophischen Geschichten und Kurzgeschichten.
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