Eileen Kipp für #kkl35 „Erwachen“
Ana.
Irgendetwas war anders. Sein erster Gedanke nach dem Aufstehen wanderte normalerweise automatisch in Richtung Küche. Doch heute war es irgendwie anders. Er war es mittlerweile gewohnt mit einem schier unerträglichen Hungergefühl aufzuwachen – bevorzugt auch schon mitten in der Nacht. Doch normalerweise musste er dieses Gefühl nicht alleine aushalten. Normalerweise war sie unterstützend an seiner Seite.
Jetzt war sie einfach weg.
Er spürte, wie ihn eine Welle der Angst zu erfassen drohte. Was würde er nur ohne sie machen? Panisch suchte er mit seinen Augen das Zimmer ab – sie konnte ihn nicht einfach verlassen haben. Er brauchte sie doch.
Wo war sie?
Sie blieb verschwunden. Er wäre nie darauf gekommen, dass er eines Tages ohne sie an seiner Seite aufwachen würde. Sie war immer da. Sie gab ihm Sicherheit und Struktur. Sie begleitete ihn durch seinen Tag. Sie nahm ihm seine Entscheidungen ab. Sie gab ihm –
Schutz.
Und jetzt war sie nicht mehr da. Von jetzt auf gleich war er auf sich alleine gestellt. Wie sollte er auch nur einen einzigen Tag ohne sie an seiner Seite meistern?
Er ging in die Küche. Sein Blick wanderte sofort zu seiner Kaffeemaschine. Hier hatte sie ihm immer sein Frühstück zubereitet. Er lächelte bei der Erinnerung, wie sie ihm jeden Morgen liebevoll sein Lieblingsfrühstuck zubereitet hatte. Einen doppelten Espresso. Selbstverständlich ohne Zucker.
„Ein Frühstück am Morgen macht dich nur träge.“ So sagte sie es immer. „Ignoriere das Magenknurren. Der Kaffee gibt dir Fokus.“
Doch während sein Blick weiterhin auf die Maschine gerichtet war, wurde ihm auf einmal bewusst, wie absurd dieser Gedanke eigentlich war. Er verbrachte seine Vormittage zitternd, vollkommen ausgelaugt und war die meiste Zeit nicht dazu in der Lage, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Aber das musste er ja auch gar nicht. Denn sie war ja an seiner Seite. Sie war immer an seiner Seite.
Bis jetzt.
Ihm wurde auf einmal bewusst, wie unfassbar ruhig es ohne sie war. Fast schon erschreckend ruhig. Sie hatte diese unangenehme Stille immer füllen können.
Doch in diesem Moment realisierte er, dass diese Stille auch etwas beruhigendes an sich hatte. Zum ersten Mal seit Jahren war er alleine mit seinen Gedanken- und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass dies gar nicht so schlimm war, wie sie es ihn immer hatte glauben lassen. Er mochte seine Gedanken. Sie gehörten nur ihm. Ihm alleine.
Er alleine durfte jetzt entscheiden, was er mit ihnen anfangen wollte.
Er beschloss sich etwas zum Frühstück zu machen – etwas anderes als einen doppelten Espresso. Während er durch die Küche streifte realisierte er, dass sie ihm absolut nichts Essbares im Haus hinterlassen hatte – ein Frühstück bestehend aus gummiartigen Algennudeln und versteinerten Reiswaffeln entsprach vielleicht ihren Vorstellungen (obwohl sie es natürlich eher als ein Mittag- und Abendessen bezeichnet hätte) aber nicht seinen. Die unzähligen Gläser mit Babynahrung würde er wohl an die örtliche Kinderkrippe spenden müssen.
Wann hatte sie eigentlich solch eine Obsession mit diesen Minigläsern etwickelt? Wie war sie überhaupt darauf gekommen, dass diese eine gute Energiequelle für einen Erwachsenen darstellten?
Über die zahlreichen Flaschen voll mit einer zuckerfreien, koffeinhaltigen Flüssigkeit, welche überall in seiner Wohnung verstreut rumstanden, würde er sich zu einem späteren Zeitpunkt Gedanken machen. Jetzt wollte er sich zunächst einmal etwas zum Essen besorgen.
Beim Bäcker.
Beim Bäcker! Alleine der Gedanke daran zauberte bereits ein breites Grinsen auf sein Gesicht. In dem Moment, als er die herrlich dekorierten Torten im Schaufenster erblickte, fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der mit strahlenden Augen neue Backrezepte zusammen mit seiner Großmutter ausprobieren durfte. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er das letzte Mal eine Bäckerei betreten hatte – in ihrer Anwesenheit durfte er lediglich sehnsüchtige Blicke durch das breite Schaufenster ins Innere werfen. Irgendwann verbot sie ihm sogar die Gerüche der herrlich duftenden Gebäcke einzuatmen. Zu gefährlich. Sie wollte ihn ja nur beschützen.
Auch wenn er sich in dem Moment, indem er die Tür der Backstube öffnete und von einer Welle an Aromen empfangen wurde, darüber den Kopf zerbrach, wovor sie ihn eigentlich beschützen wollte.
Vor einer hinterhältigen Mehlmischung?
Als er die noch warme Tüte mit den Croissants entgegen nahm, wurde ihm auf einmal bewusst, dass er sich gar nicht mehr an ihren Geschmack erinnern konnte. Warum wollte sie ihn in all den Jahren vor ihnen fernhalten?
Warum wollte sie nicht, dass er ausreichend Energie für den Tag hatte? Warum hatte er solch eine Angst vor einem Leben ohne sie an seiner Seite gehabt?
Während er den süßen Geruch von Schokolade und knusprig gebackenem Teig einatmete, fühlte sich das Leben ohne sie spürbar freier und vor allem leichter an.
Dabei hatte sie ihm immer wieder eingeredet, dass sie alles leichter machen würde. Sie würde ihn leichter machen. Doch was nützte es ihm leichter zu sein, wenn sie alles andere schwerer machte?
Er fühlte sich auf einmal wahnsinnig schuldig. Sie wollte ihm doch nur helfen. Obwohl sie zugegebenermaßen nicht besonders gut darin war. Er hatte so lange Angst davor gehabt, eines Tages ohne sie an seiner Seite aufzuwachen, doch jetzt wurde ihm bewusst, wie viel er in dieser kurzen Zeit bereits ohne sie geschafft hatte. Er brauchte sie nicht mehr an seiner Seite.
Und während er in sein Schokocroissant biss und sich den Geschmack von intensivem Kakao und Freiheit auf seiner Zunge zergehen ließ, spürte er eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass er heute morgen alleine aufgewacht war.
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Eileen Kipp wurde im Jahr 2000 geboren. Ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckte sie bereits in ihrer Schulzeit. Was mit Tagebucheinträgen in einem Klinikzimmer begann, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu aufklärenden Texten, welche sowohl düstere Einblicke in Tabuthemen bringen, also auch Hoffnung spenden können. Mit „Ganz ehrlich? Keine Ahnung.“ hat sie im September 2023 ihr erstes Buch veröffentlicht. Eileen studiert aktuell Psychologie, um zukünftig als Psychotherapeutin Kinder und Jugendliche aus ähnlichen Krisensituationen heraus begleiten zu können.
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