Aus der Tiefe…

Gerd Jenner für #kkl „Erwachen“




Aus der Tiefe…

Ganz unvermittelt stand er auf. Langsam. Ging in den Keller, auf den Dachboden, in die kleine Rumpelkammer. Schließlich fand er, was er suchte. Zögerlich griff er nach der flachen Schachtel ganz hinten im Kleiderschrank. Nahm den Deckel ab. Er wollte das nicht tun. Es war nicht gut. In dem verschrammten Karton war nichts Gutes. Aber darum ging es jetzt nicht. Es musste sein. Wirklich? Das war doch eine fixe Idee! Er konnte nicht mehr klar denken. Schluss damit! Tief durchatmen! Ruhig bleiben! Schlafzimmerschrankarchäologie. Lächerlich! Er kippte den Inhalt vor sich hin. Wie ein Stoffbündel sah es aus, aber als er das Tuch zur Seite schlug, das in kunstvoller Batiktechnik gestaltete Figuren zeigte, kam der Dolch zum Vorschein. Ein Dolch! Exotisch, ohne Zweifel. Seit Jahren hatte er nicht mehr an den Karton gedacht. Eine Weile überlegte er krampfhaft, wo er ihn überhaupt herhatte. Dann fiel es ihm ein. Sein Vater war der Meinung gewesen, der Plunder wäre bei ihm gut aufgehoben. Reiseandenken von irgendeinem Großvetter oder Urgroßonkel. Langsam zog er die Klinge aus dem Futteral. Ziemlich lang, fast schwarz, geschlängelt. Durch das dunkle Metall wanden sich filigrane helle Linien. Pfui Teufel! Er mochte so etwas gar nicht. Aber der Griff fühlte sich irgendwie gut an. Glatt und sauber gearbeitet. Lag perfekt in der Hand; schön gemasertes Holz mit seltsamen Schnitzereien. Er erschrak über sich selbst. Das Ding da war eine Waffe. Sicher, gut gemacht. Aber dennoch eine Waffe. Er hasste Waffen. So was durfte sich nicht gut anfühlen! Wie konnte er nur dieses ekelhafte Teil jahrelang bei sich aufbewahren? Ein altes Messer! Ausgerechnet er! Und Martina? Der Angriff. Mit einem Schlängeldolch. Einem wie diesem. Ihr Besuch war noch keine zwei Stunden her. Völlig aufgelöst war sie gewesen. Was sollte das alles? Da drängte etwas herauf, das er nicht kontrollieren konnte. Aber halt! Wen interessierte das? Waffen waren das Letzte, womit er sich beschäftigen wollte. Doch jetzt ging es darum, zu helfen, weiterzukommen. Er war um Hilfe gebeten worden. Von IHR. Und daher musste einiges geschehen. Einmal kein Egoist sein! Darum ging es. Und irgendwie war diese Frau… naja, das würde warten müssen.

Ungefähr eine Woche später rief er bei Martina an. Ihm schwirrte noch immer der Kopf von all dem Neuen, das er erfahren hatte. Loswerden musste er es, schon im eigenen Interesse. „Woher hast du meine Nummer?“ war ihre erste Frage. Er antwortete nicht. Redete von seinen Nachforschungen: „Hör zu, ich war bei einem Experten vom Völkerkundemuseum. Dein Dolch ist ein Kris. Ja, Kris. K-R-I-S. Wird bis heute in Malaysia und Indonesien getragen. Du, der Typ hat mir geschlagene zweieinhalb Stunden einen Vortrag gehalten. Legenden, Aberglaube, Götterspuk – furchtbar. Charakter und Persönlichkeit des Erstbesitzers bleiben in diesen Waffen lebendig, verstärkt durch allerhand Magie. Auch schwarze Magie. Daran glauben die Kerle tatsächlich. Was, wenn du es mit einer dieser fanatischen Sekten zu tun hast, mit Terroristen vielleicht? Du bist in Gefahr, Martina, daran besteht absolut kein Zweifel!“ Martina schwieg. Richtete sich so behaglich als möglich auf ihrem Sofa ein und – grinste. Nur ganz kurz. Sie hatte ihren Exmann noch nie so hektisch und atemlos erlebt. Er redete wie ein Wasserfall. Panisch beinahe, hilflos in seiner Angst. Angst um sie. Das war neu. Eine Idee tauchte auf in ihrem Kopf. Eine kleine Hoffnung. Aber dann kam die Angst wieder und die Ideen verschwanden beinahe so schnell wie vorhin das Lächeln. Was sollten diese Tagträume angesichts einer realen Bedrohung. Thomas‘ Erkenntnisse machten die Sache nicht besser.

Er sträubte sich vehement gegen die Gedanken, die in ihm aufsteigen wollten. Nicht alles, was er erfahren hatte, würde er Martina erzählen. Vor allem nichts von seinem Schrankfund. Doch genau das funktionierte nicht. Sie ahnte etwas, bohrte nach. Er erzählte ihr schließlich alles. Ihre Reaktion bestand nur in der Frage: „Aber was hat jetzt das Messer aus deinem Schrank mit diesem Irren von neulich zu tun?“

Der Historiker war ehrlich besorgt gewesen. „Ein Kris“, hatte er gesagt. „Aber doch auch wieder nicht. Die Klinge ist… nun ja, ungewöhnlich. Zu alt, zu lang, zu schmal, zu dunkel. Machart, Verzierungen… Herr Hirschberg, seien Sie bitte vorsichtig.“ Oh ja, er würde vorsichtig sein. Das Ding musste weg. So viel stand fest. Nicht dass er an die Geister glaubte, die in diesen Dolchen wohnen sollten, aber er glaubte an den Wahn, die Hybris, den Fanatismus – und die Dummheit der Menschen, die für solche Geschichten empfänglich waren. Das reichte. Da brauchte es keine Gespenster mehr. „Wir sind unsere eigenen Zombies“, brummelte er vor sich hin. Und eine Frage kam immer wieder hoch: Was war da draußen passiert? Wer hatte Martina angefallen? Wie viele von diesen Krisdingern gab es denn in der Stadt? Dass gerade bei ihm sowas im Schlafzimmer lag!

Thomas beschloss, die Waffe samt Batiktuch dem Museum zu geben. Das Wort Dauerleihgabe hörte sich ausgesprochen attraktiv an. Er hätte das Zeug auch verschenkt, wollte aber nicht, dass Andere darüber bestimmen konnten. Ein paar Tage bewahrte er Messer und Tuch noch in seiner Wohnung auf. Es hatte sich nicht anders einrichten lassen.

Nach der Arbeit setzte er sich bei guter Musik und einem Glas Wein ins Wohnzimmer. Auf dem Sofatisch lag der Schlängeldolch. Die Scheide daneben. Lange schaute Thomas ihn an. Eine dunkle Faszination schien von diesem Objekt auszugehen. Thomas spürte, dass er nichts über diesen Kris wusste. Der geschichtliche, kulturelle Hintergrund seines Entstehens würde ihm immer fremd bleiben. Und die zahlreichen Legenden, Sagen, Erzählungen verstörten ihn immer noch. Immer mehr. Der Griff lag perfekt in der Hand. Thomas hob die Waffe langsam hoch. Bewundernd. Die Klinge zog seine Blicke auf sich. Hauchzarte Ornamente schienen in das Metall eingearbeitet zu sein. Zeichen? Schriftzeichen? Das war ihm bisher noch gar nicht aufgefallen. Eine herrliche Waffe!

Abrupt hielt er inne. Warf das Messer angewidert auf die Tischplatte. Wieder war es über ihn gekommen. Diese verwirrende Art von Begeisterung, Ehrfurcht beinahe, für einen Gegenstand, den er eigentlich verabscheute. Ja, er war schön gestaltet. Aber es handelte sich um ein Instrument, das dafür gemacht, war, Menschen umzubringen. Und nun war er schon zum zweiten Mal auf dieses Ding hereingefallen. Er versuchte, die Angelegenheit im Kopf zu sortieren. Die Waffe hatte ihn auf direkt unheimliche Weise angesprochen. War es die Faszination des Bösen?  Es ging etwas Dunkles vor, etwas Abseitiges. Etwas sehr Altes und Fremdes erwachte, das alles verschütten konnte, was ihm bisher wichtig gewesen war. Sein Geist fand Wege die er, Thomas Hirschberg, nicht gehen wollte. Wie war das noch? Die Javanen glaubten, dass in diesen Waffen ein Geist wohnte. Eine dem Besitzer wesensverwandte Macht. Im Guten wie im Bösen. Diese Geistergeschichten waren einfach nur widerwärtig! Geist, das hieß doch nicht Gespenst, Dämon, Spukerscheinung, unheimliche Kraft. Nein: Geist war das Wollende, Denkende, Handelnde im Menschen. Genau das aber sollte durch solche Schauergeschichten geschwächt werden. Aber nicht mit ihm! Er packte das Ding ein und schmiss es in den Schrank, wo es so viele Jahre gelegen hatte. Ein paar Tage später würde ja alles ins Museum kommen.

Eine halbe Stunde später lag der Kris wieder in seiner Hand. In seiner Faust. Es war seiner, er gehörte zu ihm. Sein Freund, Bruder, Urvater. Kraft war in der Klinge. Floss in seinen Arm, durchdrang alles, erfüllte alles. Nicht mehr Bewunderung, Ehrfurcht, Erstaunen. Das hier war überwältigende Macht. Der grimmige Wille, hinauszugehen und zu handeln. Kraftvoll, mitleidlos, gehorsam. Jetzt. Thomas erhob sich. Sprungbereit sein Körper. Er war Dolch, war Klinge. War Härte, Entschlossenheit, war Stahl. Kalt. Und Feuer war er. Wut. Ausbruch. Unterwerfung erzwingend, Herrschaft begehrend. Sieghaftes Brüllen. Er war Dolch.

Würgereiz, drohende Erstickung, Husten. Ein Schrei drängte heraus. Zuckungen, Blut? Über ihm schlug die Dunkelheit zusammen. Das Ende war pure Agonie.

Möglich, dass an diesem Abend etwas gestorben war. Wer konnte das wissen? Thomas sprach nie von den damaligen Vorgängen. Das Dunkel schien sich zu verflüchtigen. Doch etwas war erwacht. Drängte an die Oberfläche. Damit musste man leben.

Damit lebten sie. Durchaus nicht schlecht, wie es schien. Geheimnisse? Das Böse ist Teil von uns. Manchmal mehr, manchmal weniger. Dagegen gibt es Mittel. Schutzlos sind wir ganz und gar nicht. Denn da ist noch eine Kraft. Älter, viel älter als die, mit der Hirschbergs zu schaffen hatten. Etwas Ursprüngliches, das in uns allen ist. Nichts Grausames, Dominierendes. Etwas, das Geist ist und Wahrheit. Bestimmt war an dem bewussten Abend manches gestorben. Aber kann nicht aus dem Untergang Neues entstehen?




Gerd Jenner.
„Mein Leben begann 1969 in Ludwigsburg, Baden-Württemberg. Groß werden durfte ich in Marbach am Neckar, der Heimat des Dichterfürsten Friedrich Schiller. Damit ist meine Liebe zur Literatur schon recht ausführlich erklärt! Heute lebe ich in Leonberg bei Stuttgart. Verheiratet bin ich auch, wir haben eine 15jährige Tochter. Berufe habe ich mehrere: Verwaltungsangestellter, Lokalhistoriker, Stadtführer und natürlich Autor. Neben Gedichten und Kurzgeschichten schreibe ich auch Kirchenführer und Ausarbeitungen zu kulturhistorischen Themen. Zuletzt ging es um eine Episode aus der holländischen Kolonialzeit Javas.“






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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