Lieber Träumen

Quynh Thu Thi Nguyen für #kkl35 „Erwachen“




“Ich will zurück in meinen Schlaf.”

Das Mädchen vor meinen Augen war nur noch eine Hülle ihres Selbst.

“Ich will wieder schlafen gehen.”

Ihre Stimme war noch nie so zierlich und schwach gewesen. Sie lag leblos auf einem Bett des lokalen Krankenhauses und starrte in die Ferne, die sie schon lange nicht mehr sehen konnte.

Ich wunderte mich, woraus ihre Welt nun bestand, nachdem sie ihr Augenlicht bei einem Unfall verlor.

“Ruh dich aus. Ich bin da”, besänftigte ich sie und hielt ihre Hand, damit sie die Wärme meiner Haut durch ihre Fingerkuppen spüren konnte.
Ihre Hand war nicht besonders gut durchblutet, auch unter der Bettdecke blieb sie noch eisig kalt.

Ich setzte mich auf einen Klappstuhl neben das Fußende, während ihre Atemzüge immer tiefer und ruhiger wurden. Dieses Mal hörte sie tatsächlich auf mich.

Ich öffnete vorsichtig eine Gummibärchentüte und pickte die Roten in eine kleine Keramikschale für die schlafende Figur an meiner Seite. Meine Schwester mochte die Farbe so sehr, dass sie sich weigerte, andere Geschmäcker zu essen.

Den Zucker von den kleinen Tierchen brauchte ich dringend nach drei ganzen Tagen vom Hostel zum Krankenhaus hin und wieder spät abends zurück.

Seit einer Woche besuchte ich die Schule schon nicht mehr, weil sich meine Mutter spontan überlegt hatte, meiner Schwester hier Gesellschaft leisten zu wollen. Kaum war die Entscheidung getroffen, rief einer ihrer wichtigsten Klienten per Telefon an und weg war sie. 

Sie schrieb mich vorher noch für einige Tage frei, obwohl diese Frist am Sonntag ablaufen würde.

Ich seufzte.
Wie auf Autopilot nahm ich systematisch von jeder Farbe abwechselnd ein Gummibärchen und kaute auf der zähen Substanz herum, bevor ich sie hinunterschluckte.

Ich war allein, fiel mir ein.

Ich war allein in einer fremden Stadt, allein in einem fremden Heim und allein für eine Person verantwortlich

Die Plastiktüte purzelte aus meinen Fingern und der Inhalt ergoss sich über den Boden.
Eine Spur wurde hinterlassen, die ich abklapperte, bis jedes Letzte wieder an seinem rechtmäßigen Platz war, ob nun in der Tüte oder eben in meinem Magen.

Das gelbe Zitronenbärchen, das noch einsam dalag, hätte ich fast übersehen.

Ich mied den Blick in die generelle Richtung, denn dort stand in der Ecke die Sporttasche meiner Schwester.

Die Träger sahen abgenutzt aus, während die Glitzerstreifen keinen richtigen Glitzereffekt mehr aufwiesen und die weiße Schrift auf dem dunklen Stoff, der im Nachhinein erst aufgedruckt wurde, gänzlich abblätterte.

Meine Schwester wollte schon längst eine Neue kaufen, doch sie war zu sentimental, um sich von ihren Jugendjahren zu verabschieden. 

Das war sie schon immer gewesen und würde es auch immer bleiben.

Ihre Stofftiersammlung, die Polaroidfotos der Grundschule an ihrer verputzten Wand und die unzähligen Hello-Kitty-Poster bestätigten diesen Fakt nur.

Im Angesicht ihrer ursprünglichen Lebensfreude verblasste ich oft und beneidete sie um ihr herzerwärmendes, strahlendes Lächeln.

Jetzt wünschte ich mir nichts lieber, als ihre leeren, glasigen Augen und ihre traurige Miene verschwinden lassen zu können.

Den Inhalt der Tasche kannte ich in- und auswendig. 

Zwei Paar professionelle Schlittschuhe, falls sie jemals Ersatz brauchte, verschiedenes Bandagenmaterial, Lappen, um das Eis nach dem Laufen von den Kufen zu entfernen und zu guter Letzt ihre vertrauten, schwarzen Stulpen.

Sie war Eiskunstläuferin.

Eine Prinzessin, die anmutig über die Fläche glitt und tanzte.

Ihre Teamkameradinnen fragten mich oft, wieso ich mich denn nicht von ihr lehren lassen wollte, woraufhin ich bloß antwortete: “Ich habe Angst vor dem Eis.”

Sie dachten wohl allesamt, ich wäre paranoid.

Dabei wollte ich die Kunst erlernen, aber es wäre seltsamerweise komisch gewesen, von ihr Unterricht zu bekommen.

Meine große Schwester, die für mich gar nie so groß war.

Ich sagte mir oft, es waren nur 2 Jahre. Natürlich würde man den Unterschied nicht zwingend erkennen. 

Sie leiden zu sehen, raubte mir den Schlaf aus dem Gehirn.

Ihr Traum war geplatzt, ihr wunderschöner Traum, den sie jede Nacht erlebte und mir am Morgen immer wieder aufs Neue damit in den Ohren lag.

Der Traum von der Goldmedaille.

Ohne Augenlicht war die Realisation ihrer Hoffnung nahezu unmöglich und dieses Wissen zerstörte sie endgültig.

Ich betrachtete die Wunde auf ihrem Gesicht, die so tief lag, dass sie genäht werden musste. Doch es gab einen tieferen Schmerz unter der Haut, all den Organen und den Knochen, der nie wieder heilen würde.

Träumte sie immer noch denselben Traum wie vorher?

Ich konnte es ihr nicht verübeln, so lange und so oft zu schlafen, wenn die Realität einen auf den Arm nahm und die Fantasie einen verstecken konnte.

Ich hatte ihr das Wissen um die Narbe auf ihrem Gesicht vorenthalten, um sie nicht zusätzlich zu belasten. Sie kam kaum mit dem Gedanken klar, auf ewig blind zu sein,

Der Arzt meinte, natürlich in adäquaten Worten, ich müsse mit ihr umgehen, als wäre sie Glasware von höchstem Wert.

Ihre Zukunftsvision hatte ihr die Zukunft verdorben. Ironisch, leider.

Sie war das letzte Wochenende auf dem Weg zur Meisterschaft gewesen. Kurz vor dem Auftritt, während sich die wettstreitenden Personen  erwärmten und auf dem Eis einliefen, kollidierte sie mit einer ihrer Konkurrentinnen.

Der Zusammenprall erfolgte geschwind und plötzlich, die Konsequenzen aber waren langwierig.

Ich würde versuchen, das Leben wieder angenehmer für sie zu gestalten. Dabei wusste ich nicht einmal, ob ich in der Lage war, ihr die Schönheit der Realität zu verkaufen, wenn ich selber nicht richtig an sie glaubte.

Denn schlussendlich: Käme die Gelegenheit nie wieder aufzuwachen, würde ich sie beim Schopf packen und nicht mehr loslassen. 

Ich vergrub mich im Flausch meines Pullis, der viel zu lang an meinem Körper saß. Meine Schultern und Arme versanken in dem Meer aus Stoff und kalte Luft machte sich im Spalt zwischen meiner Haut und der Innenseite des Pullovers breit. Langsam lullte mich das Ticken der Uhr in den Schlaf, die aus meiner Perspektive von dem Herzbouquet aus Rosen verdeckt wurde.

Noch 20 Zeigerschläge und ich würde mich aufrütteln und meine Mutter anrufen,

17…18…19…20.

Ich erinnerte mich an ein Fragment eines Gespräches, das ich auf dem Gang aufschnappte. Die Tür des Zimmers 241 klemmte. Das hatte ich auch bereits gemerkt, als ich das erste Mal am Montag versucht hatte, die Zimmertür aufzuschieben und steckengeblieben war. 

Das Schicksal wollte mir wohl sagen, dass ich es auch getrost sein lassen konnte, als würde es den Gedanken unterstützen, mich in einen ewig währenden Schlafzustand zu legen. 

Wie schön das wäre. 

Aber letztendlich durfte ich nicht. Letztendlich hatte ich Pflichten zu erfüllen. Letztendlich hatte jeder von uns gewisse Pflichten, die man befolgen musste. Sogar meine Schwester, die hier mit ihrem gebrochenen Herzen lag und ihre Seele ausweinte.

Das Erwachen war ein Zwang.




Quynh Thu Thi Nguyen, geb: 06.10.2006,

lebt in Berlin und besucht derzeit die 12. Klasse des Heinrich-Hertz-Gymnasiums. Obwohl die Schule besonders MINT-Fächer fördert, entwickelte sie früh eine Leidenschaft für das Verfassen literarischer Texte durch die Entdeckung einer Plattform namens Wattpad. Um an ihrer Entwicklung als Schriftstellerin zu arbeiten, entschied sie sich Ende 2023 auch einige ihrer Werke bei Ausschreibungen einzureichen.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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