Der Baum der letzten Grüße

Rosana Fee Chamulla für #kkl35 „Erwachen“




Der Baum der letzten Grüße

Ⅰ Anton

Ich war trunken vor Schlaf, als sie mich flüsternd, zischend weckte, meine Schwester, die es schaffte, selbst in ihren Flüsterton einen Peitschenhieb zu legen. Und doch nahm ich wahr, dass in ihrem schneidenden Ton ein Zittern lag, in der Stimme meiner Schwester, die sonst mit solcher Bestimmtheit sprach. Sie bedeutete mir, ihr zu folgen, sie trug nur ein Nachthemd, und ohne mir die Zeit zu lassen, Schuhe und Socken anzuziehen oder Fragen zu stellen, zog sie mich hinaus in den Garten. Dabei umklammerte sie fest meine Hand. Der Boden draußen war noch kalt, es war Frühling, und zwischen dem feuchten Gras leckten Brennnesseln an meinen Kinderfüßen. Ich spürte, dass dies nicht der Moment war, mich zu beklagen, und ich fürchtete, dass sie es sich anders überlegen könnte, um mich wieder in mein Zimmer zu verbannen, ausgeschlossen von ihrem Geheimnis. Sie führte mich zu ihrem Beet, wir beide hatten eines von unseren Eltern zugewiesen bekommen, aber ich war derjenige von uns beiden, der es nutzte, meine Schwester interessierte sich nicht fürs Gärtnern, ihr Anteil lag brach. Sie blieb abrupt stehen und deutete auf einen kleinen rosaroten Haufen, vielleicht so groß wie ein Wachtelei. Schweigend blieben wir beide davor stehen und blickten auf das Ding herab, ohne zu wissen, was es war, spürte ich, dass es etwas bedeutete. Auf keinen Fall würde ich mit den falschen Worten die Stille zerreißen, die sich wie ein geheimer Bund um uns legte, und womöglich riskieren, den Zauber zu brechen. Innerlich triumphierte ich, ein Geheimnis mit ihr zu teilen, mit meiner Schwester, ich bemerkte gar nicht, dass ich begonnen hatte zu lächeln, bis sie mich angeekelt und boshaft anschaute. Erschrocken duckte ich mich unter ihrem Blick weg, kniete mich auf die feuchte schwarze Erde und betrachtete das Ding. Es war fleischig und bei genauerem Hinsehen eher grau als rot, das Rot war nur außen. Ein Geruch von Metall stieg mir in die Nase, und etwas Anderes, das ich nicht fassen konnte, etwas, das ich noch nicht kannte, als das Kind , das ich war. Ich blickte hoch zu meiner Schwester, und erst jetzt bemerkte ich das angetrocknete Blut an ihren Schenkeln und die Spuren eines braun-roten Rinnsals, welches bis zu ihren Knöcheln reichte. Sie stand noch immer schweigend da und starrte auf das Ding herab. “Was machen wir jetzt?” fragte ich sie, und ärgerte mich gleich über die Verunsicherung in meiner Stimme, mich hat Angst überkommen, und ich musste den Impuls unterdrücken, sie zu bitten, unsere Eltern zu rufen. „Wir vergraben es”, entschied sie, und kniete sich neben mich. Trotz der Bestimmtheit ihres Beschlusses blieben wir noch eine Weile schweigend sitzen, betrachteten das Ding, und verharrten in stiller Übereinkunft. “Wenn du irgendjemandem davon erzählst, landest du in einem Loch daneben”, knurrte sie, und ich glaubte ihr aufs Wort, so wie ich jedem einzelnen ihrer Worte glaubte, und sie vor fremden Zweiflern verteidigte, die mich dann nachsichtig anlächelten. Ich nickte. “Indianerehrenwort”.  “Gut. Dann los.” Seite an Seite versenkten wir unsere Hände in der schwarzen Erde. Sie roch sauer und fruchtbar und nach frischer Erde, die an meinen Händen klebte. Ich nahm mir vor, in meinem Bett noch oft an ihnen zu riechen.  “Warte”, sagte ich, einem Einfall folgend, sprang auf, getrieben von meiner Idee, und rannte durch das feuchte Gras zu meinem Beet. Nun spürte ich die Brennnesseln nicht mehr, auch nicht meine Angst vor Dunkelheit, schließlich steckte ich mit meiner Schwester im Bunde. Ich habe Pflanzen schon immer gemocht, am allermeisten aber mochte ich Käfer. Nach der Schule, deren Tage alle nach Pappe und Heizungsluft schmeckten, die zugleich einschläfernd und grausam waren, streifte ich gerne durch den Wald, der an unserem Haus grenzte. Mein Wald, wo der Wind die zitternden Blätter bewegt. und die Vögel ihre Nester bauen. In den Sommerferien bastelte ich ihnen einen Käferhimmel, ein Paradies für Baumpilzkäfer, Distelböcke und Gelbrandrüssler. Die kleinen opaleszierenden Käferchen nahmen mein Werk dankend an, sie krochen um mich herum, tasteten mit ihren Fühlern und Beinchen an meinen dreckigen Turnschuhen, und ließen sich von Langsamkeit nicht irritieren. Jetzt, in der Kälte einer Frühlingsnacht,  hielten sie sich versteckt, und die Blumen, die ich gepflanzt hatte, noch zart in ihrem Sproß, verschlossen ihre Köpfchen. Ohne Bedauern riss ich einige von ihnen aus, hielt sie schützend in meinen Händen, und lief so schnell wie ich konnte zu meiner Schwester zurück,  die noch immer vor dem von uns gegrabenen Loch kniete. “Hier”, sagte ich, und öffnete meine Hände, in denen die Blüten lagen. Zum ersten Mal in dieser unwirklichen Nacht sah sie mich direkt an, es lag Wärme in ihrem Blick, und ich war so stolz auf meine Idee, dass ich aufpassen musste, nicht wieder zu Lächeln. Sie streute die blassblauen Blüten in das Loch in der Erde und legte anschließend das Ding dazu. “Wir betten den Tod in ein Versprechen von Leben“, erklärte sie, und obwohl ich nicht verstand, was sie damit meinte, nickte ich zustimmend. Ich musste nicht verstehen, was sie sagte, um mir sicher zu sein, dass sie Recht hatte. Anschließend verschütteten wir das Loch, und suchten gemeinsam nach einem besonders glatten Stein, den wir darauf legten. Keine Lieder, keine Kerzen, nur der Stein und der sich lichtende Himmel über uns, klar, und weit, und schweigsam. “Geh jetzt ins Bett, Brüderchen.”, meinte sie abwesend und strubbelte mir dabei durch die Haare. Ich wollte nicht zurück in mein Bett, ich war aufgekratzt und berauscht von unserem geteilten Geheimnis, aber ich traute mich nicht ihr Widerworte zu geben, ich wollte, dass sie für immer so blieb, sanft mit mir sprach, meine Ideen lobte, mich einweihte, mir mit ihren Händen durch die Haare fuhr. Und so trottete ich zurück zu unserem Haus, während das leise Flüstern meiner Schwester immer unverständlicher wurde.

Ⅱ Esther

Ich erwache in dem Garten, in dem ich das Fast vergraben habe, das Fast-Leben, mein Fast-Kind, der zerbrochene Spiegel. Ich erwache in dem Garten, nur ist die Erde warm unter meiner Haut, statt kühl und feucht. Ein wolkenloser Himmel thront über mir, meine Hand tastet nach einem Erdklumpen, der in ihr zerfällt. Es ist still. Zu still für einen Garten, der an einem sonnendurchfluteten Tag doch rascheln und brummen und flüstern sollte. Ich richte mich auf, ganz ohne Anstrengung, als hätten meine Muskeln keine Aufgabe mehr, mein Körper ist federleicht und von durchdringender Stille. Es braucht einen Moment, bis ich den Grund des Schweigens in meiner Brust finde; es fehlt der Herzschlag. “Ich bin Esther“, spreche ich in den Himmel hinein, der schweigt. Um mich herum wächst eine wilde Wiese, aus Rotklee, Mädesüß und wildem Ginster. Und auch sonst scheint es nicht derselbe Garten zu sein, der Gartenzaun ist verschwunden, und wo einst das Haus meiner Kindheit stand, lässt nur noch eine überwucherte Steinmauer die Existenz menschlicher Anstrengungen erahnen. Ich wandere durch den Garten, dessen Grenzen sich aufgelöst zu haben scheinen, rieche an den wild wuchernden Gräsern und Blüten, und pflücke mir einen kleinen Strauß. Vor mir erscheint eine gewaltige Eiche, die wirkt, als würde sie seit Anbeginn der Zeit dort stehen, mit knotigen Ästen und starken Wurzeln und einer Krone aus Papier. Als ich näher an den Baum herantrete, erkenne ich, dass auch aus der rissigen Rinde überall Zettel herausragen. Der gewaltige Baum ist über und über behangen mit Briefchen und Briefen, die Umschläge reichen von weiß bis hellblau oder gelb, in manchen Umschlägen scheinen ganze Manuskripte zu stecken, auf anderen Zettelchen steht nur ein einziges Wort, ein Name, eine Kritzelei. Ich muss lächeln. Der Baum der letzten Grüße. Ich schreibe einen kurzen Brief an mein Brüderchen, er liest sowieso nicht gerne, und schiebe ihn in eine verbliebene Ritze.Auch demFast in meinem Garten möchte ich einen Gruß zukommen lassen, aber was schreibt man einem Fast? Es müsste mehr als ein Gruß sein, ich müsste ihm doch alles erzählen, angefangen von dem Grün und dem Blau, ich müsste davon berichten, wie es sich anfühlt, ganz leer zu sein, oder mutterseelenallein. Ich müsste es drängen, nicht an Sinnentleertheit und Chaos zu verzweifeln, noch sie zu verleugnen, sondern ihnen mit geradem Rückgrat zu begegnen. Ich müsste es zur Haltung auffordern und dazu, seine stille Würde zu finden. Aber vor allem müsste ich es drängen, sich berühren zu lassen, sich wirklich berühren zu lassen, freudig, nein, lustvoll zu scheitern, immer wieder, kleine Tode sterben, die eigene Wüste durchqueren. Und natürlich müsste ich meinen unangefochtenen Rückhalt beteuern, den es natürlich nicht braucht, denn es ist ja nur ein Fast. Eine Laune der Natur hat es aus dem Nichts gerissen, und es ist sofort wieder darauf zugegangen, als läge ihm nichts an dieser Welt. Es bleibt unbefleckt wie das Weiß der Laken, dass ich panisch beschützte, nie wird es den Dreck kosten, der an uns Menschen klebt. Nie wird es seine Mutter anschreien und sich schämen, oder nach einem langen Tag in den Fernseher starren und feststellen, dass ihm etwas Fundamentales abhandengekommen ist, nie die volle Bedeutung des Wortes Ernüchterung schmecken.  Es gibt nichts, dass ich ihm erzählen kann, ein Fast ist kein Teil dieser Welt, ist es nie gewesen, es kann meinen Begriffen keinen Inhalt geben. Plötzlich erscheint mir der Garten tot und steril, wie die leere Karikatur eines Gartens, eine Karikatur von Leben. Entsetzt blicke ich mich um, doch das Grün scheint kein Ende zu nehmen, das falsche Grün von dem mir nun schlecht wird, dass unbeteiligt seine Wurzeln treibt, mich verhöhnt, und es hört nie auf, es ist ewig grün, ewiges Leben, dessen Ewigkeit so tot auf mich wirkt, es ist falsch und es hört nie auf, ich höre mich selbst schreien, ich wache auf. Starre an meine dreckig-weiße Decke. An die fleckige Tapete. Eine Fliege wirft immer wieder ihren schweren Leib gegen mein Fenster, die Luft drückt. Ich habe geschwitzt, die Laken sind um meinen nassen Körper geschlungen. Es ist Sommer. Benommen trete ich an das Fenster und befreie die Fliege, die trunken und schwankend das Weite sucht. Das ist meine Wohnung, mein Zimmer, mein Bett, mein Tisch, mein Schrank, mein Fenster. Ich bin Esther.

Ⅲ die Kirche

Ich entschied, dass ich einen Abschied brauchte. Als ich aus dem Haus trat, empfing mich gleißende Frühsommer Hitze. Sie zog mich hin, zu einem heiligen Ort. Weder das Versprechen von Reinheit noch das Konzepte von Sünde konnte mich je überzeugen, aber die Buntglasfenster, die rotgrünblaues Licht auf den kalten Stein malen, Chöre deren Stimmen sich über selige Gesichter erheben, ein Haus wie ein Schoß, daran konnte ich glauben. Ich glaube an heilige Orte, und daran, dass Ihre Heiligkeit nicht in dem Material liegt, aus dem sie geschaffen sind, sondern in dem Material ihrer Geschichte. Das Wunder der Pyramiden liegt weniger in ihrer Monumentalität als in der menschlichen Anstrengung, die es kostete sie zu bauen. Das Wunder liegt in uns. Ich fand mich in einer kleinen Kirche, der Putz der Außenwand reflektiert das Mittagslicht. Innen ist es angenehm kühl, die Sonne wirft bunte Schatten auf den Kirchgang. Die schweren Holzbänke sind leer. Stille legt sich schwer um mich. Langsamen Schrittes gehe ich das Kirchenschiff hinunter und streife die Dinge mit meinen Händen. Ganz vorne steht ein kleiner Tisch mit Opferkerzen, keine brennt. Ich betrachte das Schild, welches zwei Euro für die Kerze verlangt, und erwäge sie nicht zu bezahlen. Zwei Euro für ein Teelicht ist eine gewinnträchtige Summe für ein Haus, das vorgibt, auf Bescheidenheit und Uneigennutz gebaut zu sein. Ich blicke mich in der leeren Kirche um, und stelle mir vor, wie es wäre, die Kerze anzuzünden, mich umzudrehen und zu gehen. Ob die Kirchenmauern absichtlich so mahnend gebaut wurden, Stein auf Stein, einem erhobenen Zeigefinger nachempfunden? Ich muss lachen über die Vorstellung, mein Lachen hallt von den Wänden wieder, der Klang füllt den hohen Raum und hüllt mich ein, ich bin ein Mädchen von siebzehn Jahren, ich bin eine Riesin, ich stehe allein in einer Kirche und lache. Ich zünde eine Kerze an. Ich hoffe dein Schlaf bleibt ungestört von den Klängen dröhnender Glocken und toter Götter. Ich hoffe, der Ginster und die Blumen meines Bruders sind Weihung genug. Ich hoffe du schläfst friedlich unter den Dächern der grünen Kathedrale. Ich hoffe, dass irgendwo in dir, tief unter dem Schlaf, etwas seine Klingen wetzt, ich hoffe, das Tier in dir ist wach und frei. Ich summe dir ein Lied, der erhobene Zeigefinger mahnt zu andächtiger Ruhe, als hätte das Leben keinen Platz unter Gott. Ich zünde noch eine Kerze an, und noch eine, meine Stimme trägt sich durch das Kirchenschiff.




Rosana Fee Chamulla wuchs zwischen Buchdeckeln auf und wurde zwischen den Seiten zum Menschen. Sie liebte und floh Berlin, um Philosophie und literarisches Schreiben in Leipzig zu studieren. Sie macht sich bereit für den Sprung.







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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