Der Pakt

Hannah Güntzel für #kkl35 „Erwachen“




Der Pakt

„Papaaa, wie geht das mit dem Kinderkriegen?“

Mit Bambi-Augen schaute ich zu meinem Vater auf, der einen Arm um mich gelegt hatte. Auf sein Gesicht trat ein Ausdruck, den ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte, eine Mischung aus Überraschung und mühsam unterdrückter Verlegenheit. Diese Frage hatte er wohl nicht kommen sehen, als er mich ins Bett brachte.

Wie jeden Abend hatte er mich zugedeckt, sich neben mich gesetzt und mir zum Einschlafen eine Geschichte aus seiner Kindheit erzählt. Ich kannte all seine Geschichten längst in- und auswendig, so oft hatte ich sie schon gehört, und trotzdem gelang es meinem Vater mit seiner schmelzenden Karamellstimme, dass ich immer noch jeden Abend wie gebannt an seinen Lippen hing. Am Ende seiner heutigen Geschichte hatte er mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt, geschmunzelt und gesagt: „Mein Möhrchen, irgendwann wirst du deinen eigenen Kindern Gutenachtgeschichten erzählen, so wie ich dir.“

Mit diesen Worten wollte er sich von meinem Bett erheben, doch so leicht sollte er nicht davonkommen. Ich war noch immer hellwach und er hatte mir soeben – ohne es zu ahnen – das perfekte Thema geliefert, um die unabwendbare Schlafenszeit noch ein bisschen hinauszuzögern. Nur deswegen habe ich mich mit meinen kleinen Händchen an seinen Arm geklammert und die eine Frage gestellt, vor der wahrscheinlich allen Eltern graute.

Der Mund meines Vaters öffnete sich, aber kein Ton kam heraus. Seine Augen wanderten zur Tür, als würde er sich fragen, ob es klüger wäre, Mama zu rufen und ihr diese heikle Angelegenheit zu überlassen. Nach kurzem Zögern schien er zu dem Schluss zu kommen, dass er allein damit fertig werden würde. Er ließ sich seufzend zurück aufs Bett sinken und fragte: „Weißt du denn, was der Unterschied zwischen Mann und Frau ist?“

„Na klar, Frauen haben lange Haare“, antwortete ich mit kindlicher Selbstverständlichkeit.

„Nicht alle. Frau Wolf von gegenüber hat kürzere Haare als ich. Und erinnerst du dich an den Kassierer von neulich im Supermarkt? Der hatte einen ganz langen Zopf.“

Ja, ich erinnerte mich, aber wenn es nicht das war, worauf wollte er dann hinaus? Die Augen auf das blau-weiße Schwanenmuster meiner Bettdecke geheftet, überlegte ich, bis mir eine Idee kam. Verlegen murmelte ich: „Najaaa … untenrum.“

„Genau! Beim Kinderkriegen geht es darum, was Mann und Frau zwischen den Beinen haben – das eine passt nämlich zum andern.“

Dieser schlichte Satz ließ tausend Fragen gleichzeitig in meinem Kopf aufploppen, die sofort aus meinem Mund heraussprudelten. Wie sollte denn da unten irgendwas zusammenpassen und was zum Kuckuck hatte das mit dem Kinderkriegen zu tun?

Mein Vater erklärte es mir.

Ausführlich.

Wie immer hörte ich ihm aufmerksam zu, diesmal allerdings mit sperrangelweit geöffnetem Mund. Mit jedem Satz sank mein Kinn noch ein Stück tiefer. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich sprachlos, doch kaum, dass mein Vater seine Erklärung beendet hatte, sprang ich auf und kreischte völlig außer mir: „Das ist eine Gelogenheit!“

In meinen unschuldigen Kinderohren hatten seine Worte in etwa so geklungen: Irgendwann würde ein Mann kommen und mir mit dem Rüssel zwischen seinen Beinen einen Samen in den Bauch pflanzen. Als ob diese Vorstellung an sich nicht schon verrückt genug gewesen wäre, sollte dieser Samen auch noch wachsen und mich kugelrund machen, bis neun Monate später angeblich ein neuer Mensch aus mir herausplatzen würde – der blanke Horror!

Entsetzt rang ich nach Atem, vollkommen unfähig zu begreifen, was für eine neue Geschichte mein Vater sich da ausgedacht hatte. In meinem Kopf tauchten plötzlich Bilder von einem Film auf, den ich erst ein paar Tagen zuvor heimlich angeschaut hatte, über Ufos, eine Alienentführung und grausame Experimente mit viel Blut, Schleim und Geschrei.

„Keine Angst“, bemühte sich mein Vater verzweifelt, mich zu beruhigen, „du musst nichts tun, was du nicht willst, aber es kann Spaß machen zu kuscheln, sich zu küssen und –“

„Nein! Niemals nie im Leben nicht!“, schimpfte ich mit aller Entschlossenheit, die ich mit meinen sechseinhalb Jahren aufbringen konnte. „Küssen ist Ihhhhhhhh!“

Mein Vater raufte sich die Haare und überlegte einen Augenblick, dann hatte er offenbar einen Einfall. Er stand auf und ging hinüber zum Tisch. Dort nahm er einen Stift, zog im Vorbeigehen ein Lesezeichen aus einem der Bücher im Regal und setzte sich damit wieder zu mir aufs Bett. Tief über meinen Nachttisch gebeugt schrieb er zwei Zeilen in seiner verschnörkelten Handschrift auf die weiße Rückseite des Lesezeichens:

Ich, Maria Wellhoff, schwöre feierlich,

dass ich nie im Leben jemanden küsse.

Als er fertig war, schob er mir das Lesezeichen hin und verkündete in geschäftsmäßigem Ton: „Lass uns einen Pakt schließen. Wenn du wirklich nie im Leben jemanden küsst, dann hast du drei Wünsche bei mir frei. Wünsch dir, was auch immer du willst!“

Fasziniert starrte ich auf die geschriebenen Worte hinab – nicht, dass ich sie damals hätte lesen können. Bei Papa drei Wünsche frei, das war quasi fast genauso gut wie ein waschechter Flaschengeist! Was sollte ich mir als Erstes wünschen? Vielleicht eine neue Puppe, eine Zeitmaschine, Weltfrieden oder ein Pony …

„Aber“, fuhr Papa fort und entriss mich meinen Wunschträumen, „wenn du doch irgendwann mal jemanden küsst, musst du von da an immer brav sein. Hast du gehört? I-M-M-E-R!“

„So richtige Schlabberküsse aufn Mund?“, fragte ich angewidert.

„So richtige Schlabberküsse auf den Mund“, nickte mein Vater.

Da musste ich nicht lange überlegen. In krakeligen Buchstaben kritzelte ich meinen Namen unter die zwei Zeilen und besiegelte damit unseren Pakt. Was hatte ich schon zu verlieren? Küssen war wie gesagt Ihhhhhhhh und immer erschien mir damals nicht länger als ein Wimpernschlag.

Kaum ein Jahr später sollte meine Entsagung, was das Küssen angeht, auf die Probe gestellt werden.

Meine Mutter hatte mich beim Kinderballett angemeldet. Unter dem strengen Regime der Lehrerin, einer Ex-Primaballerina, die vom Kettenrauchen vorzeitig gealtert war, hatten wir monatelang Tschaikowskys Dornröschen einstudiert und ausgerechnet jetzt – kurz vor der großen Premiere – fing ich mir eine Erkältung ein.

Da auf die Schnelle kein Ersatz zu finden war, wurde ich mit Hustensaft gedopt auf die Bühne geschoben, wo ich mir die Seele aus dem Leib tanzte. Zwar wurde die Aufführung ein voller Erfolg, doch hinterher brach ich fiebrig zusammen.

Im Krankenhaus diagnostizierte der Arzt eine Mandelentzündung und wollte mich kurzerhand dabehalten. Meine Eltern ließen mich in der Obhut einer Krankenschwester zurück und fuhren nach Hause, um alle Sachen zu holen, die ich für die kommenden Tage brauchte. Nie zuvor bin ich in einem Krankenhaus gewesen – nicht solange ich denken konnte jedenfalls – und schon gar nicht ohne Mama und Papa! Ein beißender Geruch hing in der Luft, alles war grellweiß und so fremd. Mir schlotterten gewaltig Knie!

Die rundliche Schwester führte mich durch die endlos langen Gänge der Kinderstation zu einem Patientenzimmer. Darin standen fünf Betten, von denen drei bereits belegt waren. Zwei Jugendliche sahen gerade fern und warfen mir nur einen flüchtigen Blick zu, als ich mich auf dem leeren Bett am Fenster niederließ.

Der Junge im Bett nebenan spielte Gameboy. Er war ungefähr in meinem Alter. Während mir die Schwester zeigte, wie man die Rückenlehne am Bett verstellen konnte, musterte er mich verstohlen. Erst als sie hinausgewatschelt war, um den Speiseplan für die nächste Woche rauszusuchen, sprang er auf und kam zu mir.

„Was hast’n du?“

Mit großen Kulleraugen sah ich ihn an und deutete vielsagend auf meinen Hals, dann krächzte ich mit der Stimme einer alten Frau: „Und du?“

„Mittelohrentzündung.“

„Was ist das?“

„Keine Ahnung. Was mit den Ohren, schätze ich.“

„Tut das weh?“

„Ein bisschen. Wie heißt du?“

„Maria. Und du?

„Ich bin Markus.“

„Was spielst du da?“ Ich deutete auf den Gameboy in seinen Händen. Meine Eltern hielten Videospiele für Zeitverschwendung, also hatte ich keinen und war umso versessener darauf.

Kurze Zeit später kamen meine Eltern wieder, um mir Pyjama, Waschtasche, Malbücher und meinen heißgeliebten Teddybären zu bringen. Zu ihrem Erstaunen lag ich nicht allein im Krankenbett. Mein neuer Freund hatte sich neben mich gelegt und sah mir beim Spielen zu. Ich schien die zwei kaum zu bemerken, so sehr hatten mich Super Mario und Markus in ihren Bann gezogen.

Die Zeit im Krankenhaus war fabelhaft! Markus und ich schauten den ganzen Tag unsere Lieblingstrickfilme im Fernsehen und wenn keiner hinsah, hüpften wir auf unseren Betten, bis uns schwindelig wurde. Er erlaubte mir, mit seinem Gameboy zu spielen, wann immer ich wollte, und durfte im Gegenzug von meinem Wassereis naschen, das ich dank der Mandelentzündung tonnenweise bekam. Nachts schrieben wir uns mit einer Taschenlampe unter der Decke geheime Botschaften. Zu Papierfliegern gefaltet ließen wir sie dann zwischen unseren Betten hin und her segeln ließen, bis unsere pubertierenden Zimmergenossen so genervt waren, dass sie uns bei einer der Krankenschwestern verpetzt haben.

In der Nacht vor meiner Mandelentfernung konnte ich vor lauter Aufregung nicht einschlafen. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite zur anderen, bis ich bemerkte, dass Markus auch noch wach war. Unsere Blicke trafen sich in der Dunkelheit. Auf sein Gesicht stahl sich ein scheues Lächeln. Er schlüpfte aus seinem Bett und kam auf Zehenspitzen zu mir geschlichen.

„Du, Maria“, flüsterte er, „ich hab mir gedacht … du weißt schon, falls du morgen nicht wiederkommst …“

Von Todesangst gepackt fuhr ich hoch. Das war so ziemlich das Schlimmste, was ein kleines Mädchen vor seiner ersten Operation hören konnte.

„Was meinst du?“, wimmerte ich.

„Na ja, ich wollte … Krieg ich nen Kuss?“

„Waaaaas?“, keuchte ich entgeistert.

Vom anderen Ende des Zimmers ertönte ein schläfriges Brummen.

Markus pssste mich an. „Nicht so laut! Hör mal, ich mag dich eben. Dachte nur, es wäre vielleicht ne gute Idee …“

Erwartungsvoll sah er mich an. In seinen Augen spiegelte sich das spärliche Licht der Straßenlaternen, das durch die Ritzen der Jalousien ins Zimmer fiel. Stumm rang ich mit mir, in Gedanken bei dem Pakt mit meinem Vater, doch schließlich siegte meine Neugier und ich fasste mir ein Herz.

„Na gut, aber du darfst nicht schmulen!“

Er gehorchte, drückte die Augen fest zu und spitzte die Lippen, sodass sein Gesicht im Dunkeln wie eine verzerrte Fratze aussah. Zuerst zögerte ich, dann rückte ich näher, bis er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt war, und beugte mich langsam vor.

Das Erste, was ich spürte, war seine Nasenspitze an meiner. Dann – für den Bruchteil einer Sekunde – berührten sich unsere Lippen. Es war nasser als erwartet.

Mir entfuhr ein Kieksen. Noch bevor Markus die Augen wieder aufschlug, zog ich mir die Bettdecke über den Kopf und gab keinen Mucks mehr von mir. Ich war schockiert darüber, was wir soeben getan hatten! Durch einen schmalen Spalt beobachtete ich, wie Markus zufrieden grinste, dann tapste er in sein Bett zurück. Bestimmt hatte er doch geschmult.

Natürlich habe ich meinem Vater nicht verraten, dass ich unseren Pakt gebrochen hatte, aber ich glaube inzwischen hat er, was das angeht, so eine leise Ahnung … Zu schade, dahin sind Zeitmaschine, Pony und Weltfrieden. Sorry, Welt!






Hannah Güntzel, 1990 in der Buchstadt Leipzig geboren, studierte Soziologie, Archäologie und Kunstgeschichte des vorislamischen Orients an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Anschließend absolvierte sie ihren Master in Informationsdesign und Medienmanagement. Bereits zu Schulzeiten nahm sie erfolgreich an Schreibwettbewerben teil und arbeitete während ihres Studiums im Verlagswesen.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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