André Hénocque für #kkl35 „Erwachen“
Neuland
Wie lange war er schon hier? Er konnte sich nicht genau erinnern. Ziemlich
lange, jedenfalls. Er drehte sich auf den Rücken. Seitdem er diese Höhle als freiwilliges Refugium ausgesucht hatte, konnte er nur mit sich selbst sprechen, denn er hatte den Eingang so gut es ging verschlossen und getarnt. Er hatte es so gewollt. Enttäuscht von der Welt, mit ihren egoistischen Menschen, seine Familie eingeschlossen, hatte er beschlossen, allem den Rücken zu kehren und die Höhle schien ihm optimal dafür geeignet.
Er hatte alles geplant. Zunächst hatte er genügend Proviant, insbesondere dauerhafte Lebensmittel und Konserven, hier eingelagert. Ein Vorrat an
Kerzen und Streichhölzern, eine Luftmatratze und einige Decken vervollständigten seine Ausrüstung. Die kleine Wasserquelle im hinteren Teil der Höhle reichte für seinen persönlichen Bedarf aus. Ein kleiner Spalt in der Decke sorgte für ein fahles Licht, welches ihm gerade erlaubte die Gegenstände schemenhaft zu erahnen.
Zunächst war es so gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er war ganz bei sich. Nichts lenkte seine Gedanken ab und die Meditation sorgte dafür, dass ihm sein Zeitgefühl fast vollständig abhandenkam. Einzig der schwache Lichtschein, der seinen Weg durch den Riss in der Decke fand, ließ ihn die Nacht vom Tag trennen.
Nach einiger Zeit stellte er fest, dass seine Gedanken anfingen sich zu verändern. Der Zorn und der Abscheu, den er dem Verhalten der Menschen entgegengebracht hatte, machte der Nachsicht und dem Verzeihen Platz.
Die Erkenntnis, dass die Natur des homo sapiens nicht vorrangig etwas mit Nächstenliebe und Zurücknahme der eigenen Bedürfnisse zu tun hatte, sondern eher nach Eigenliebe und Profit strebte, setzte sich allmählich durch. Wie konnte er ihnen böse sein? Wodurch war diese Veranlagung angelegt? Konnten sie sich überhaupt anders verhalten?
Vielleicht war die Entscheidung sich aus der Welt zurückzuziehen falsch gewesen. Hier in der Höhle konnte er nur über theoretischen Modellen nachdenken, die das Leben auf dem Planeten verändern konnten. Aber nur draußen, wo das wahre Leben stattfand, konnte er etwas ändern.
Er stand auf. Seine Entscheidung war gefallen. Er würde seine Kraft dazu einsetzen die Erde etwas besser zu machen. Es war als ob er aus einem langen Traum erwacht wäre.
Der Eingang der Höhle war schnell freigeräumt und das frühe Licht der Frühlingssonne ließ ihn blinzeln. Es war ihm, als hätte er ein neues Land betreten. Die Welt ist doch schön, dachte er. Besonders dann, wenn die
Natur erwacht.
André Hénocque
Geb. 29.08.1948 in Hagen/Westf.
Verheiratet, 3 Kinder, 5 Enkel
Rentner, früher Industriekaufmann
Publikationen seit 2020:
Kurzgeschichten in 9 Anthologien
Gedichte und Kurzgeschichten im Netz
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