Zu neuen Ufern

Bernd Lange für #kkl35 „Erwachen“




Zu neuen Ufern

Zum Ende hin ist er ganz schön in die Breite gegangen. Und träge ist er auch geworden.

    Auf der gegenüberliegenden Seite, ziemlich nah am Ufer, macht sich ein kleines Baggerschiff zu schaffen. Der Fluss zeichnet hier eine leichte Linksbiegung, gut möglich, dass sich der Kies am Grund zu sehr staute, um wieder weggebaggert zu werden. Freie Fahrt oder besser, freier Fluss für den Fluss!?

    Flach und weit, brackig und dunkel, sehr wenig Ansehnliches verliert sich auf der nur leicht aufgerauten Wasseroberfläche, die sogar das Sonnenlicht verweigert. Die letzten, vielleicht einhundert Kilometer ist der Fluss auf seinem Weg ins offene Meer wirklich breit und träge geworden; bestimmt langweilig für ihn. Nichts mehr ist übriggeblieben von seinem munteren Plätschern, mal glucksend, mal gurgelnd, über Waldboden und Moos kurz hinter der Quelle. Über Stein und Fels, bevor er das erste kleine Dorf erreicht, durch das er kraftvoll und fröhlich seinen Weg gebahnt hat. Durch Wiesen, in denen er mäandrisch weiter geflossen ist, durch Auen, in denen er verwunschen rauschte. Und so weiter, bis es von alleine gelaufen ist, er sich zu einem schmalen Flüsschen ergossen hat, dann rinnend, wogend, wallend, strömend. Immer wieder auf seinem Weg wurde er begleitet von Menschen, die sich mit ihm freuten, die mit ihm lachten, die Spaß an ihm hatten.

    Das letzte Stück, seine letzten vierundzwanzig Stunden, bleibt er allein. Fast unsichtbar in einem leicht erhöhten Damm gebettet, damit er auch ja nicht ausbricht, sich ausbreitet und auf dumme Gedanken kommt. Dahinter Ödland, leeres Land, so weit das Auge reicht. Wiesen, Felder, Äcker, die in der Ferne verschwinden, von denen der Fluss nichts mehr mitbekommt. Bis auf die länglichen Baumkronen der Pappeln, die links und rechts Spalier stehen. Sie wedeln ihm im Wind, der bereits den Salzgeruch des nahen Meeres heranbringt, winken ihm zurückhaltend zu. Gestaffelt in Reihen stehen sie, die schmalen Bäume, in diagonalen Linien parallel zum Damm. Genau so wie die Masten der Hochspannungsleitungen, deren Drähte leicht durchhängen und die Symmetrie ein wenig durcheinander bringen. Irgendwie eine langweilige Raumordnung.

    Leere auch auf der stählernen Eisenbahnbrücke, die sich rostfarben weit über den Fluss spannt. Kein Ächzen in den Gelenken ist hörbar, die Gleise sind längst stillgelegt. Kein Winken aus irgendeinem Leben heraus, keine Bewegung. Festgefügtes Metall in Stein, an beidem nagt der Zahn der Zeit. Spuren, die keinen mehr interessieren.

    Ohne Unterbrechung zieht der Fluss weiter. Wegen dieser Ruhe müsste er froh sein, dass er hier sein darf, dass er noch nicht am Ziel ist. Doch diese Ruhe ist fast tödlich, sie kann verrückt machen. Vereinzelte Gebäude, von denen er manchmal noch gerade das Dach erkennen kann, nehmen Stellung. Verlassene, verwitterte Backsteine, zerbrochene Fensterscheiben, eingesackte Dachziegel, schimmliges Gemäuer zieht sich vom Boden hoch. Lebensraum für ein paar Raben, die auf irgend etwas warten. Keiner will wissen, auf was. Totenstille.

    Der Fluss sollte sich glücklich schätzen, dass er das nicht mit ansehen muss. Rohrstutzen von Gasleitungen ersetzen die Pappeln. In gleicher Anordnung, in metergenauen Abständen in den Boden gerammt, so wie die Bäume lange Jahre vorher gepflanzt wurden.

    Überall bläulicher Dunst am Himmel über ihm, an dem Stück Himmel, das der Fluss noch sehen darf. Dunst, der sich bis zu allen Horizonten fortsetzt. Entfernungen verlieren sich im Nichts. Und doch trennen sich mehr und mehr Licht und Schatten, scharf geschnitten von trostlosen Flächen und Körpern. Ziegelsteinmauern, Asphaltbänder, Betonklötze trennen die Tiefe des Raumes, versperren den Blick ins Unendliche, lassen erahnen, dass es noch eine andere Form der unbeweglichen Geschäftigkeit gibt. Reihenweise stehen ausrangierte Tanks, Raffinerietürme, Fabrikschlote, Ventilschleusen, Stahlgerüste im Weg, spiralförmig ragen Skelette in die jetzt leicht gelblich gefärbte Luft.

    Auf dem Fluss kommt Leben auf, totes Leben. Blechbüchsen, Styroporplatten, aufgeweichte Pappkartons, ungehobelte Holzplatten, Kistenreste, zerfetzte Autoreifen, Gewirr von Holzwolle, eine Plastiktasche, Einkaufstüten, ein durchnässter Overall, Flaschen, deren Hälse sich schaukelnd über Wasser halten, dümpeln im Brackwasser, das sich seitlich am Ufer leicht aufgeschäumt fortwährend im Kreis dreht.

    Gleichgültig bleibt der Fluss, zieht weiter, er will sich nicht anmerken lassen, was ihm hier aufgebürdet wird, aufgeladen worden ist. Und doch kann er es nicht verbergen.

    Der Himmel erstickt, dem Fluss dürfte das Atmen ebenfalls schwer fallen. Rechteckige Lagerhallen, ein Elektrizitätswerk, in dem alle Fäden der Hochspannungsdrähte zusammenkommen, eine Barackensiedlung, unzählige Wohnwagen daneben. Einzig die Wäsche, die an gespannten Leinen zwischen den Wagen aufgehängt ist, zeigt im zugigen Wind Bewegung. Bis auf die unangenehm zischenden Geräusche einer weiteren Raffinerie, aus deren stählernen Schornsteinen gespenstige Feuerfackeln speien, scheint alles stillzustehen, sogar der Fluss zaudert. Obwohl ihm zuzutrauen ist, dass er sein ausgeschachtetes Bett, schnurgerade von riesigen Betonwänden eingefasst, schnell wieder verlassen möchte.

    Dann ohrenbetäubender Lärm, Geschrei, das bis aufs Mark durchdringt. Tausende von Möwen auf und über einem riesigen Müllberg. Sie schwirren und trippeln kreischend am Auswurf der Zivilisation. Ihr Tisch ist reich gedeckt.

    Der Hafen, willkommen am Ziel? Eingesperrt wird der Fluss in eine bedrohliche Kaimauer. Ihm muss übel sein, seinem Geruch nach. Verzweigungen von Kanälen, Wasserarmen nach allen Seiten, bunt schillernd ziehen Schlieren von Öl und Benzin auf seiner Wasseroberfläche, die sich mit den Kohlenhalden gleich dahinter um die Gunst des tieferen Schwarz misst. Im Bilgenausschuss, kaltes Schwitzwasser und schillerndes Schmutzwasser, strudeln immer wieder verklumpte Teerbrocken. Nicht mal das Ausweichen in die Hafenbecken, die links und rechts mit neuen Perspektiven locken, reizen ihn mehr. Mit diesem faulen Wasser will der Fluss nichts zu tun haben. Ein Wasser, das keine Heimat hat, nicht mehr weiß, was aus einer Quelle kommt, und auch nichts von den Gefühlen spürt, was es heißt, auf dem großen weiten Ozean zu schwimmen.

    Der Hafen. Den Fluss geht er nichts mehr an, vorbei. Nur schnell vorbei. Die Lastkähne, die Schlepper, die Frachter, die Schiffe; sie sind ihm alle gleichgültig, wen er auf seinem gebeutelten Rücken noch trägt. Die wuchtigen Klötze von Lagerhallen, die sich wie Krakenarme ausbreiten und hinter deren fensterlosen Mauern ein ständiges Hin und Her schnaubt und faucht und poltert, die skelettartigen Kräne, die wie Polypen ihre hebenden und senkenden Fangarme nach allen Richtungen ausstrecken, der Fluss will von diesem Leben um ihn herum überhaupt nichts mehr mitbekommen. Der Hafen ist für ihn kein Hafen.

    Kein Hafen, der ihn auffängt, an dem er vor Anker geht, in dem er nach langer Reise seine wohlverdiente Ruhe finden möchte. Keine Pause, kein Zurücklehnen, kein Auftanken, nichts wie weg von hier. Hinaus aufs Meer, hinaus in die unendliche Weite, dort zieht es den Fluss hin.

    Sein letzter Blick zeigt ihm eine Welt aus Steinen und Teer, aus groben, verdreckten Felsquadern, aus Haufen von verrosteten und verrotteten Schrott. Und auf seinem letzten Weg zu neuen Ufern, auf den letzten Metern in eine neu gewonnene Freiheit kommt ihm nochmals ein letztes Hindernis entgegen, um ihm die Vergänglichkeit seines Lebenslaufes zu verdeutlichen. Ein Bollwerk fauliger Algen empfängt ihn. Doch auch das geht vorbei, am lang ersehnten Meeressaum, der Schwelle zum Aufatmen. Endlich frei.





Bernd Lange       

http://www.schreiberei-b-lange.de

Was ich über mich schreibe:

_ geboren am 11. Juli 1949 in Berlin;

_ gewachsen in Köln;

_ gelebt in Stuttgart, Freiburg und wieder in Stuttgart;

_ geschäftlich bis 2018 als selbständiger Werbe- und PR- 

  Texter, Konzeptioner sowie Redakteur, Fachautor und Blog-

  Arbeiter unterwegs gewesen;

_ Dozent für Kommunikation und Werbliches Schreiben;

_ seit 2022 im “Unruhestand“ an der Uni Tübingen nochmals

  angefangen zu studieren: Literaturwissenschaft/Kreatives

  Schreiben und Klassische Archäologie.

Was andere über mich erzählen:

Vor meiner Schreibmaschine sitzt er, lebt er.

Freut sich über geglückte Worte, verflucht misslungene.

Wenn der Mond mit seinen Schatten Sujets camoufliert, ist er glücklich.

Und wenn dann die Sonne wieder mit ihrer Evidenz prahlt, geht sein Leben weiter.

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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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