Acta est fabula

Bernhard Horwatitsch für #kkl35 „Erwachen“




Acta est fabula

Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbestimmten, vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Luftschächten in der Mitte, eingefaßt von sehr niedrigen Geländern.
(Jorge Luis Borges)

Vom einfachen Redakteur Edward Morgan zum Medienimperator Mustafa Mond führte lediglich ein schmales Zeitloch, das sich in der Zukunft gegen Abend öffnete und um Mitternacht passierbar wurde. Als würde man die Bibliothek Babylons besuchen und als reisender Entzifferer je ein Buch aus der Zukunft in die Vergangenheit entführen. Mustafas Mondimperium stammte aus der Vergangenheit. Und doch waren seine Journalisten, seine Nachrichtenredakteure immer die ersten, die vor Ort waren und berichteten. Nächtliche Spaziergänge durch mächtige Sechsecke in denen alles verzeichnet war, was je geschieht. Doch was Mustafa Mond so wenig ahnte wie sein vergangenes Ich Edward Morgan: Die Zukunft beinhaltete alles Mögliche. Niemand konnte mehr mit letzter Gewissheit sagen, ob die Mondpresse die aufgrund ihrer Schnelligkeit immer als Erste wussten, was geschieht, zum Dispositor des Geschehenden wurde. Hypsoma, der verborgene Ort.   Er lag unmittelbar neben dem Tapeinoma. Monds nächtliche Wanderungen durch das Zeitloch veränderten selbst die unendliche Bibliothek des Universums. Die Nachrichten der Mondpresse kamen so schnell, dass die Ereignisse anfingen, sich zu überschlagen. Der Zeitpunkt der Wandlung, bis Mustafa Mond in seinen nächtlichen Ausflügen in die Vergangenheit nicht mehr auf Edward Morgan, sondern auf sich selbst treffen würde, rückte näher. Niemand konnte voraussehen, was dann geschieht, ob jemals wieder etwas geschehen könnte. So begann Edward Morgan die Nächte zu fürchten. Er spürte seine Wandlung kommen. Mustafa Mond war dafür blind. Er war bereits gewandelt. Und wandelte. Immer häufiger traf Mustafa Mond auf einen wachen Edward Morgan. Für Mustafa Mond ein günstiger Umstand. So beschleunigten sich die Nachrichten noch mehr, wurden dank eines wachen Edward Morgan in der Vergangenheit noch präziser.
Edward saß in seinem Büro und starrte durch die Glaswand auf die lange Reihe der Schreibtische seiner Redaktion. Es war Mitternacht. Ein schmaler Streifen Neonlichtes leuchtete sternförmig von der Decke. Die Notbeleuchtung ließ sich nicht abschalten. Dennoch flackerte das Neonlicht, ging für den Bruchteil einer Sekunde aus, immer in dem Moment wo sich das Zeitloch öffnete. Ein Wirbel in der Raumkonstruktion, als würde man eine prismatische Brille tragen, ein kurzer Blick auf eine in gewaltige Höhe führende Wendeltreppe. Und als Edward wieder seine Augen öffnete, strömten seine Mitarbeiter hektisch in die Redaktionsräume mit den allerfrischesten braking news. Die Neonlichter blitzten hell auf und verwischten die Dunkelheit der Straße. Die Schreibmaschinen klapperten, Sekretärinnen liefen herum in karierten Röcken und streng gescheitelten Haaren die hinten zu züchtigen Zöpfen gebunden waren. Die Journalisten in Knickerbocker und Drahtbrillen, die Haare kurz rasiert als seien sie Mitglieder einer Mönchssekte. Edward Morgan beobachtete durch seine Glasscheibe das hektische Treiben, während die Newsticker weiter über den Bildschirm flackerten.  Die ersten Nachrichtensender auf Breitband öffneten ihre Theke und die Menschen saßen vor Porridge und Kakao während Explosionen über ihre Bildschirme flackerten, stürzende Politiker Dankesreden hielten, und der Nachrichtensprecher wendete seriös ein Blatt nach dem anderen. „Berlin… New York… Singapur… Melbourne… Tokio… Simbabwe….“, tickerte es tickend und im Tick Tack immer schneller werdender Uhren, den Takt immer mehr erhöhend in Trillionen tosender Neuigkeiten jede Sekunde zerlegend. Immer schneller frühstückten die Arbeiter und schütteten den Kaffee in sich hinein und rasten mit immer schneller werdenden Zügen in immer hektischere Betriebe. Immer leerer wurden die Augen der Angetriebenen, während die Mondpresse immer lauter hämmerte und die Ereignisse dieser Welt mit gewaltiger Kraft aus Babylons Bibliothek pustete.
„Stop“, flüsterte Edward Morgan. „Stop“. Aber es war nicht mehr aufzuhalten. Er war nicht mehr aufzuhalten. Edward starrte auf seine Hände, die nicht mehr seine waren, auf den manikürten Nägeln verhöhnte ihn der Mond und er spürte die Wandlung, weil er sich selbst nicht mehr ertrug. Er wusste, der nächste Blick in den Spiegel würde nicht mehr ihn zeigen. Nun war er gezwungen, Nacht für Nacht als Mustafa Mond durch eine endlos sich verzweigende Bibliothek zu wandeln um eine sich nie erschöpfende Ansammlung an Nachrichten und Ereignissen zu lesen und Nacht für Nacht würde er um den Schlaf gebracht und dann würde dieser durch die Sechsecke von Babylons Bibliothek rennende Medienimperator auf sich selbst treffen, mit einer Wucht, die die ganze Bibliothek erschüttern könnte.
Langsam, als hätte die Zeit für sie keine Bedeutung, ging die Sonne auf, drehte ihr Licht auf und der gesichtslose Dämogorgon sank wieder zurück in seinen verborgenen Ort aus dem die Ereignisse geschossen kamen. Und im flirrenden Licht verzweigte sich die Hektik, bis am Abend in müden Gesichtern wieder die Sonne versank und Mustafa Mond erneut durch diese unendliche Bibliothek wandern würde. Bis die Zeiten aufeinander treffen.




Bernhard Horwatitsch https://www.literaturprojekt.com/

Schreibt seit vielen Jahren dies und das und wird es auch weiter tun. Warum er das tut, hat er längst vergessen.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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