Wegmarken

Ingrid Maestrati für #kkl35 „Erwachen“




Wegmarken

Im Kino. Gemütlich in meinem Sitz installiert und außer Gefahr sehe ich James Bond vor einem Labyrinth. Er geht erst gar nicht hinein, sondern überfliegt es mit einer Drohne, die so wendig ist, dass er trotz der Flugabwehr nicht abgeschossen wird. Und dann weitere Szenen: er flirtet mit der Frau des Präsidenten, bei einem Empfang mit vielen wichtigen Gästen.

Fiktive Realität, zum Träumen und Wohlfühlen: der große Held, ein moderner Märchenprinz, dem alles gelingt und eine schöne Frau, der ich ähnlich sehen könnte… Alle träumen wir von diesen Wunschbildern, wir tragen sie in uns und jetzt werden sie lebendig.

Anders als bei diesen sozialen Idealen sind wir allein in unseren nächtlichen Träumen. Ein Hauch auf der Seele sind sie, federleicht und manchmal ängstigend.

Und wieder ein Labyrinth: ein Platz in der Mitte und sternförmig ausgehende Straßen, über Querstraßen miteinander verbunden. Ein Spinnennetz mit einem Fadenkreuz von zwei breiten Hauptstraßen: vertikal und horizontal.

Ich gehe in dieses Labyrinth, im Kreis herum und bin dann mitten auf diesem Platz. Im Traum habe ich mich einfach durchgetastet und bin im Zentrum angekommen. Aber der Rückweg macht mir Angst.

Ich wache auf.

„Diesen Platz kenne ich“, sage ich mir und suche ihn auf einem Stadtplan, taste mit dem Finger einige Straßen ab und merke mir die Namen. Hier in der Stadt ist alles klar festgelegt und muss, laut Plan, eingehalten werden, um zum Ziel zu gelangen. Jetzt wird das Labyrinth übersichtlich: Hier das Fadenkreuz und die Nebenstraßen im Stern. Ich suche meine Adresse. Sie ist außerhalb. Der Rückweg ist gesichert. Kein Überfliegen des Labyrinths, kein Steckenbleiben darin, sondern ein direkter Weg über eine der Hauptstraßen. „Sie sind gangbar in beide Richtungen“, sage ich mir, „nach innen – zur Mitte – oder nach außen.“

Und dann fragt mich eine Frau nach ihrem Weg. Wir setzen uns in ein kleines Straßencafé und plaudern lange. Was für ein Glück! Wir haben Zeit füreinander – das war im Stadtplan nicht vorgesehen. Nach und nach merke ich, dass sie ihren Weg kennt. „Fast unbegehbar“, erwähnt sie seufzend und erzählt ein wenig aus ihrem Leben.

„Lebenspläne“, denke ich, „man kann sich verfahren“. Aber ich sage es nicht. Wir suchen unsere Adressen auf dem Plan. Sie sind weit weg voneinander.

„Jetzt geht es wieder alleine weiter“, sagt sie beim Abschied. Beinahe wären wir Freundinnen geworden. Meine Hand entgleitet der ihren. Sie wohnt in dieser Stadt und ich bin nur auf Besuch hier. Wir haben nicht denselben Weg. Ich sehe sie weggehen, ein wenig nach vorn gebeugt und ohne zurückzusehen.

Ein kurzes Treffen, ein gegenseitiges sich Versichern unserer Standorte vor dem Weitergehen. „Wir haben ein paar Wegmarken gesetzt“, denke ich noch, „und verschiedene Richtungen eingeschlagen“. Ich war dem Labyrinth entgangen. Jetzt war ich mir meines Weges sicher.




Ingrid Maestrati , Jahrgang 1945. Mehrere Lebensphasen:

Arbeit im Tourismus/Weltreisen,

Auslandsposten über das Auswärtige Amt in Myanmar und Paris,

Fünf Jahre in Griechenland mit meinem Mann,

Studium: Philosophie und Psychologie in Paris,

Arbeit als Psychologin in Paris, in der Industrie und bei Gerichten,

Ein französisches Sachbuch in Vorbereitung,

Mein Buch: UNTERWEGS – Erinnerungen  ISBN 978-3-03883-084-9, 2019,

Mehrere veröffentlichte Kurzgeschichten in Anthologien und Literaturzeitschriften






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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