Marianne K. Ertl für #kkl37 „Präsenz“
Barbara
Ich glaube, ich habe mich irgendwann selbst verloren. In letzter Zeit war es mir immer öfter passiert, dass ich statt den meinen Daten die von Barbara angegeben habe. Ihr Geburtsdatum statt des meinen. Und das ganz ohne Absicht; Barbara und ich lebten so eng zusammen, dass wir irgendwann eins geworden sein mussten. Wir leben schon so lange zusammen, dass ich gar nicht mehr genau sagen kann, wann wir begonnen haben, miteinander zu leben. Eines Tages waren wir, damals noch zwei Fremde, an der Kasse des Supermarktes unten an der Hauptstraße ins Gespräch gekommen.
„Heute Abend gegen Acht in der kleinen Bar ums Eck?“, hatte sie mich dann gefragt, mit einem Zwinkern.
Das war der Abend gewesen, an dem sie begonnen hatte, sich langsam, aber stetig in mein Leben einzuschleichen. Ich muss gestehen, dass ich schon am Weg in die Bar eine leise Vorahnung gehabt hatte. Aber ich war zu neugierig gewesen und hatte alle Warnsignale in den Hintergrund meines Bewusstseins zurückgedrängt. Wobei einschleichen in diesem Zusammenhang vielleicht ein falsches Bild suggeriert. Viel eher war ihre Präsenz als verbindliches Angebot von mir aufgenommen worden und nachdem ich zu lange gezögert hatte, bevor ich ein Nein herausgebracht hatte, war meine (non-existente) Antwort einem Ja gleichgekommen.
Wir hatten uns noch ein paar Mal in der Bar gesehen und dann hatte sie irgendwann meine Seite gar nicht mehr verlassen wollen. Geradezu aufdringlich war sie geworden. Ich hatte das ganze Geschehen, als würde es mich nicht weiter betreffen, mit skeptischem Blick und phlegmatischer Untätigkeit betrachtet. Mit unverschämter Selbstverständlichkeit hatte ihre strahlende Omnipräsenz meine zaghaften Abwehrversuche stillgestellt.
Sie hatte sich mir also dezent aufgedrängt und ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, dass ich sie versehentlich zu lieben begonnen hatte. Erst als mir dies bewusst geworden war, hatte ich mich dann tatsächlich zu wehren begonnen. Mit aller Kraft war ich gegen mich selbst vorgegangen, der Wurzel dieser Gefühlswallungen, hatte gegen mich selbst gekämpft, hatte protestiert, geleugnet, ignoriert; all das innerhalb von kürzester Zeit und mit einer solch bemerkenswerten Inkonsequenz, dass mein plötzliches Aufbäumen von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war. Aber da war es ohnehin schon zu spät gewesen. Es war schon zu spät gewesen, als ich sie im Supermarkt angesprochen hatte. Bei meiner Zerstreutheit gepaart mit Passivität war es ohnehin immer für alles zu spät. Sie hatte sich in meinem Leben festgesetzt wie eine Krankheit. Sie war allgegenwärtiger, als jede Gottheit es ihrer Anhängerschaft sein konnte.
Aber das war nicht weiter schlimm, da ich Barbara liebte. Peinlich schnell fand ich mich damit ab und genoss und litt unter den Symptomen gleichermaßen.
Irgendwann – es musste etwa ein Jahr, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, gewesen sein – war sie dann stolze Trägerin eines Verlobungsrings gewesen. Sie hatte über das ganze Gesicht gestrahlt, als sie mir den Ring bei einem Getränk in der Bar präsentiert hatte. Mir fehlt jegliche weitere Erinnerung an jenen Abend, aber danach war der Kontakt abgebrochen.
Aus meinem Leben war sie jedoch weiterhin nicht verschwunden. Sie belagerte nach wie vor meine Existenz. Der Schatten ihrer Absenz saß mir weiterhin im Rücken und kontrollierte mich. Wir waren mir gegenüber sehr grausam. Egal, was ich tat, ich fragte sie unwillkürlich nach ihrer Meinung und sie gab sie mir bereitwillig. Aber noch lieber erläuterte sie ihre Ansichten, wenn ich gar nicht danach gefragt hatte. Bald sprach sie ihre Anschauungen durch meinen Mund aus und führte anstatt meiner selbst Gespräche mit den Leuten in meinem Umfeld.
Barbara war weg, aber für mich war sie realer als die Realität. Sie war Teil meiner Identität geworden, teilte mit mir meinen Geist und meinen Körper. Wo immer ich war, war auch sie. Bald wurde sie immer mehr als ich.
Wochen vergingen, Monate, Jahre; wir lebten und liebten und wurden eins; ich lebte und liebte.
Bis mich eines Tages an der Supermarktkassa eine Frau mittleren Alters ansprach. Sie hatte etwas an sich, das ich all die Jahre verzweifelt in den Gesichtern aller anderen Menschen gesucht und nicht gefunden hatte. Sie hatte etwas Barbara an sich. Aber ihre Hände zierte kein einziger Ring und sie trug ihre Haare inzwischen nicht mehr in einem blondierten Kurzhaarschnitt, wie auch ich sie nun schon seit mehreren Jahren trug. Ich erkannte sie fast nicht wieder. Das war nicht Barbara. Sie war uns kaum noch ähnlich.
Und dennoch schien sie mich wiederzuerkennen, die Fremde, und schwatzte mir ein Gespräch auf. Unsere Neugierde und Höflichkeit ließen mich immer weiter in das Gespräch sinken.
„Heute Abend gegen Acht wieder in der kleinen Bar ums Eck?“, hatte ich sie dann gefragt, mit einem Zwinkern.
Es verstand sich von selbst, dass es nur eine Barbara geben konnte. Eine Barbara musste sterben; und egal, welche es treffen würde, es würde eine Barbara zugrunde gehen und ich würde eine nicht weniger beweinen als die andere. Ich oder sie. Beide trugen wir gewissermaßen die Idee derer, die ich liebte, in uns.
Sie war nach ihrer Trennung wieder zurück in die Stadt gekehrt, erzählte sie mir am Abend. Und je länger sie sprach, desto blasser wurde mein Selbstbild. Mir wurde klar, dass jedes Wort, dass sie über sich erzählte, ein Messer durch die Idee Barbaras in mir jagte. Die, die sich als sie ausgab, würde mich zerstören, würde alle Erinnerungen überschreiben, auf denen ich in den vergangenen Jahren meine Identität gegründet hatte. Nicht sie oder ich als Menschen würden daran glauben müssen, wurde mir nun bewusst, sondern Barbara, die Idee, würde sterben. Was an der Fremden noch an jene Frau erinnerte, die sie einst gewesen war, war die Durchdringlichkeit ihrer Gegenwart und diese Gegenwart drohte nach meiner Liebe zu greifen und sich wie ein Schleier über meine Seele zu legen.
Und dennoch hing ich an ihren Lippen und bewunderte das Spektakel in meinem Inneren. Wir stießen darauf an und ich begann mit vom Alkohol brennender Kehle mein brennendes Rom zu besingen. Meine Stimme wurde immer höher und überschlug sich, bis ich die Melodie in einem hohen, perlenden Lachen ausklingen ließ, wie ich es nur von Barbara kannte.
Die Fremde ergriff die Flucht.
Ihr Geruch blieb noch einige Minuten so schal neben mir hängen wie der Duft von Barbara an ihr. Als ihr Geruch kaum noch wahrnehmbar war, beruhigte ich mich langsam wieder.
Plötzlich sprach mich jemand von hinten an. „Barbara?“
Marianne K. Ertl erblickte 1996 in Graz das Licht der Welt und wuchs in der niederösterreichischen Wachau auf, wo sie sich vor allem zeichnend, lesend oder schreibend über das Übermaß an pittoresker Natur hinwegtröstete. Nach Abschluss der Matura an einer Schule mit Kunstschwerpunkt zog es sie nach einem kurzen Intermezzo in Belgien nach Wien, wo sie Kunstgeschichte und Germanistik zu studieren begann und nach und nach auch dem Studium der Philosophie verfiel. Das Schreiben konnte sie sich bis jetzt noch nicht abgewöhnen. In ihren Texten befasst sie sich meist mit zwischenmenschlichen Beziehungen und Dynamiken und – vermutlich schon studiengeschädigt – mit dem Phänomen des Sehens und allen damit verbundenen Lastern.
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