Christoph Sames für #kkl39 „Hinter der Zeit“
Flüchtige Beständigkeit
Wir sind unbedeutend, wie ein Tropfen Wasser im Meer. Unsere Leben sind flüchtig und nichts scheint für die Ewigkeit zu sein. Trotzdem ist da auch die ewige Wiederkehr von Trennung, Aufbruch und wieder ankommen. Das Leben beginnt mit dem Durchtrennen der Nabelschnur und dem gleichzeitigen Aufbruch ins Leben, bis alles wieder vergeht und wieder etwas Neues entsteht. Ein ständiges Werden und Vergehen, in dem gleichsam etwas Flüchtiges und Beständiges liegt. Wie Regentropfen ziehen wir Kreise auf dem Wasser, bevor wir uns in ihm auflösen und in dem endlosen Meer verschwinden.
Der Gedanke an die Vergänglichkeit kann uns traurig stimmen und beunruhigen, oder uns gelassener machen, wenn wir die Flüchtigkeit als Leichtigkeit empfinden, welche uns befreit, im Gegensatz zu der Schwere der Dinge, die niemals aufhören, uns nicht loslassen und binden. Vielleicht sind beide Gefühle aber auch immer gleichzeitig da.
Alles kreist um die Doppeldeutigkeit in allen Dingen, die uns so verwirren kann, dass wir uns einen geradlinigen Weg wünschen, auf dem wir zwei Seiten klar voneinander trennen können. Wir haben mit unserer Sprache eine starre Welt der Gegensätze erschaffen und müssen erst wieder lernen, diese mit unseren Gedanken und Gefühlen aufzubrechen, um zu erfahren, dass alle Einzelteile miteinander verwoben sind.
In unseren Köpfen existieren oft einseitige Begriffe von glücklich und unglücklich, schön und hässlich, beständig und flüchtig oder vernünftig und verrückt. Wir haben diese Begriffe jeweils mit ganz bestimmten Umständen verknüpft, die wir selbst in unseren Gedanken entworfen haben und wir zwingen uns, diesen Umständen zu entsprechen, während wir vergessen zu haben scheinen, dass wir den Begriff selbst definieren und immer neu, mit ganz anderen Umständen verknüpfen können. Auf der fieberhaften Suche nach unseren Entwürfen sind wir blind geworden, für den Neubeginn, der am Wegesrand liegt. Wir suchen in lebenslangen Beziehungen, in traditionellen Familienformen, in der Anpassung an die Norm, in Ideologien, oder Religionen nach Beständigkeit, dabei liegt diese oft gerade in den flüchtigen, zeitlich gemessen, kurzen Momenten, die uns verändern und für immer begleiten. In Umständen, von denen wir es nie erwartet hätten: Ein Ort an einer Küstenstraße, an dem du eine Autopanne hattest und stundenlang warten musstest, wird zu einem Ort der Ruhe, an den du in Gedanken immer wieder zurückkehrst. Bei einem Songtext aus deiner Kindheit, kommen dir auch Jahre später noch die Tränen. Eine Romanfigur begleitet dich in schwierigen Lebenslagen, wie eine imaginäre Freund*in. An einem Regentag flüchtest dich in einen Hauseingang und triffst einen Menschen, mit dem du plötzlich persönliche Gedanken austauschst, bis das Gespräch einem Drogenrausch ähnelt. Die Zeit dehnt sich in diesen Momenten und die Konturen, die den Rahmen eng gehalten haben verblassen.
Diese Momente erfahren wir zum Beispiel beim Reisen. Wir erleben Momente die wir bewusst wahrnehmen und wir können die Flüchtigkeit genießen. Es ist das wunderbare Gefühl, wenn alles fließt, wir uns treiben lassen und rastlos umherziehen können. Es sind die alltäglichen Orten und zufälligen Begegnungen, die uns mehr berühren und verändern, als die biographischen Stationen unseres Lebens, denen so viel Bedeutung beigemessen wird.
Können wir diese flüchtigen Momente überhaupt als solche bezeichnen, oder sind sie nicht lang und beständig, weil sie sich ausdehnen, während einschläfernde Jahrzehnte der scheinbaren Beständigkeit die Zeit komprimieren und eigentlich sehr kurz sind? Vielleicht leben wir zu stark in einer Welt der Begriffe und unsere Sprache ist zu unflexibel und wertend, als das sie das tun könnte, was sie ursprünglich sollte, nämlich unsere inneren und subjektiven Gefühlswelten ausdrücken. Oder sie reicht schlicht nicht aus, um alle Gedanken und Gefühle vollständig zu erfassen und presst etwas in eine Form, das eigentlich formlos ist.
Doch wir können diese starren Formen aufbrechen und aus der Welt der Erwachsenen fliehen, wie ein Kind, welches es aus dieser eintönigen Welt dahin zieht, wo die Farben sich vermischen. Diese Phase des Aufbruchs beschreibt unsere Sehnsüchte und Träume und den Zauber der ungewissen Zukunft. Gewissermaßen ist der Aufbruch die erste Bewegung in der statischen Welt, die Vorfreude auf die Reise, auf der hinter den verstaubten Mustern, langsam etwas Neues sichtbar wird und wir die Flüchtigkeit annehmen können.
In einer Phase der Trennung jedoch kann uns dieselbe Flüchtigkeit beängstigen und wir sehnen uns erneut nach unveränderlichen Definitionen, weil der geradlinige Weg uns am einfachsten erscheint und weil wir Angst davor haben, etwas Schönes zu verlieren. In diesen Phasen vermittelt die Endlichkeit des Lebens, uns eine unglaubliche Sinnlosigkeit. Es erscheint nutzlos das Schöne festhalten zu wollen, aber trotzdem versuchen wir es immer wieder, weil wir die Flüchtigkeit nicht akzeptieren wollen. Der Sand rieselt durch die Hände, wenn du ihn fest mit deiner Faust umschließt. Der Wind wirbelt das Blatt fort, in dem Moment, in dem du es aufheben willst. Ein Vogel hebt vom Ast ab, bevor du den Auslöser deiner Kamera drücken kannst. Du kannst keinen Moment festhalten. Du kannst die Flüchtigkeit der Welt nicht einholen. Wenn du etwas unbedingt besitzen willst, besitzt es schließlich dich, weil es dich nicht mehr loslässt und du nicht zur Ruhe kommst. Genauso wie du dich die ganze Nacht im Bett hin und her wälzt, wenn du dringend schlafen willst und wie du aus der Kurve rutschst, wenn du mit durchgedrückten Gaspedal, versuchst alles in eine Bahn zu lenken. Du kannst nichts kontrollieren, du musst es loslassen, egal was es ist. Auch wenn du nicht schläfst, bricht ein neuer Tag an. Versuche den Sand nur zu fühlen, schaue den Blättern im Wind und den Vögeln hinterher wie sie davonfliegen und fahre Schlangenlinien an den Hindernissen vorbei. Und wenn die Flüchtigkeit und Endlichkeit dir Angst machen, gibt es auch in diesen Momenten vielleicht eine Beständigkeit die Trost spendet. Ein vertrauter Gegenstand, eine weite Landschaft, die uns überdauert, ein alter Baum, der schon Jahrhunderte dasteht, oder eine Freund*in die nicht von deiner Seite weicht. Es ist immer beides zur selben Zeit da. Die Flüchtigkeit und die Beständigkeit. Und auch die negativen Aspekte des Lebens können zu etwas positivem führen, auch wenn wir den Weg zunächst nicht sehen. Die Gegensätze können hierbei unsere Wegweiser sein und dann erkennen wir in der Trennung zur selben Zeit auch den Aufbruch in eine neue Reise.
Zwei sich scheinbar wiedersprechenden Gefühle zur selben Zeit, verwirren und spalten uns, weil uns beigebracht wurde, dass es nur einen, geradlinigen Weg gibt. Wenn wir die Flüchtigkeit spüren, bekommen wir Angst und sehnen uns nach der Beständigkeit, nach einer Wahrheit und einer Einheit die Sicherheit spendet. Ein kleines Universum nur für uns, statt der unsicheren Welt der Wiedersprüche in der wir verloren geht, wie ein Tropfen Wasser in einem riesigen Meer. Wir versuchen krampfhaft alles in eine Form zu bringen, erfinden Wahrheiten von Beständigkeit und Ewigkeit und werden unbewusst unglücklich, weil wir in unserem tiefsten inneren Wissen, dass es Lügen sind. Ideologien, Religionen, Karrierestreben oder Ehen sind Ausdruck des Wunsches nach einer Einheit der entzweiten Persönlichkeit und Beständigkeit in einer flüchtigen Welt. Ich sehe eine bessere Chance darin, die bipolare Struktur des Lebens zu akzeptieren und die anarchische Schönheit, die darin sichtbar wird, als solche anzunehmen. Hell und Dunkel. Heimat und Fremde. Vernunft und Triebe. Wärme und Kälte. Die Nacht und der Tag. Sie alle sind nicht klar voneinander getrennt und gespalten, sondern durch fließende Übergänge ineinander verschlungen. Und es kann ja auch beruhigend sein zu wissen, dass es nicht nur den einen Weg, nicht die eine Wahrheit gibt, der wir folgen müssen. Denn wie oft ist es in der Geschichte schiefgegangen, wenn Menschen versucht haben die eine Wahrheit für sich zu beanspruchen?
Warum erleben wir zwei sich wiedersprechende Gefühle als Paradox, oder: Warum beunruhigen uns Paradoxe? Weil wir die Kontrolle verlieren? Vielleicht leben wir in einer Kultur der Kontrolle. Wir müssen alles bändigen und beherrschen und dadurch wächst die Angst. In der indischen Kultur steht die Göttin Kali gleichzeitig für Zerstörung und Erneuerung, ohne dass dies als Paradox empfunden wird. Die Doppeldeutigkeit als eine Göttin, weil alles miteinander verwoben ist. Sich auf den ersten Blick wiedersprechende Begriffe und Gefühle, wiedersprechen sich nicht, weil sie zur selben Zeit existieren und ineinander verschlungen sind. Wir brauchen keine Angst vor dem Chaos haben, nur weil uns beigebracht worden ist, immer alles gut zu sortierten und aufzuräumen. Wir brauchen uns nicht bedroht fühlen, wenn unsere Ordnung angetastet wird. Weil es nicht nur eine Ordnung, nicht nur eine Wahrheit und nicht nur einen Weg gibt, sondern Millionen kleiner Abzweigungen, die uns im Kreis führen und immer wieder an den Anfang bringen, egal welche Abzweigungen wir nehmen. Und können wir dann nicht auch mehr Verständnis füreinander und für andere Lebensentwürfe entwickeln, wenn wir daran denken, dass wir alle nur unbedeutende Tropfen sind, die in dem riesigen Meer ihre Kreise ziehen, während wir zur selben Zeit auch das Meer sind?
Beruhigende Rastlosigkeit
Ich bin seit einem halben Jahr auf Reisen durch Südeuropa und Marokko, sitze gerade am Meer und versuche zu verstehen, warum ich das tue, was ich tue. Warum es mich immer so rastlos hinauszieht in die Welt. Ich musste die letzten Tage viel über meine Zeit im Entzug nachdenken, weil sich die Umstände in gewisser Weise ähneln. Ich bin auf Reisen gegangen, um mir Zeit für mich zu nehmen und auch damals hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Es sind beides Stationen im Leben, von denen ich – wie wahrscheinlich die meisten Menschen – annahm, sie seien alles verändernde Stationen im Lebensverlauf und würden mich prägen. Aber so verhält es sich für mich nur auf den ersten Blick. Schaue ich tiefer in mich hinein, glaube ich nicht an ein bestimmtes Ereignis, das einen verändert und fortlaufend bestimmt. Im Nachhinein konstruieren wir ein Ereignis so, dass es entscheidend ist, aber ob es das wirklich war, wissen wir nicht. Es gibt mehr das uns ausmacht, als die Biographischen Stationen unseres Lebens. Es gibt nicht den einen Umstand der die eine Wirkung hervorruft und die Zeit verläuft nicht linear oder auf ein Ziel zu.
Obwohl es mir durch die Monotonie in den Tristen Gängen und Räumen der Entzugsklinik und die immer gleichen grauen Wände meines Zimmers und den gleichen Tagesabläufen, so vorkam, als vergehe die Zeit langsamer, war ich, als ich rauskam, doch überrascht dass die drei Monate schon um waren. Rückblickend ging es wahnsinnig schnell, weil die Zeit durch die Monotonie komprimiert wurde.
Durch die stetig neuen Eindrücke und Reize beim Reisen hingegen stellt sich das Gefühl eines zufriedenen Seufzers ein: Ach warum geht die schöne Zeit nur immer so schnell vorbei? Mit etwas Abstand wiederum, reichen die Erlebnisse, um ein ganzes Leben zu füllen. Ein Jahr voller Abwechslung und Erlebnisse kann rückblickend wirken als wären 10 Jahre vergangen. Die Langeweile dehnt die Zeit ins Unendliche, aber im Nachhinein betrachtet tut sie genau das Gegenteil und frisst sie. Ein eintöniges, dämpfendes Leben durch das wir Zeit verlieren, während wir Zeit gewinnen, wenn wir dieselbe mit Leben füllen. Alles dreht sich um die Wahrnehmung und keine Uhr kann uns verraten, ob wir Zeit gewonnen oder verloren haben, weil sie nicht linear ist, sich je nach Umstand, dehnt oder komprimiert.
Anscheinend verhält sich das Ganze aber auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich, eben weil es auf die Wahrnehmung ankommt. Entscheidend ist nicht der äußere Umstand, sondern das Verhältnis des subjektiven Empfindens zu dem jeweiligen Umstand. Hätte ich die Zeit in der Klinik mit meinen Gedanken gefüllt und nicht einfach nur gewartet, hätte ich mir Geschichten ausgedacht, geschrieben, oder gezeichnet, wäre sie mir anders vorgekommen und ich hätte die Monotonie nicht als solche empfunden. Es wäre wie eine Reise gewesen und alles hätte sich umgedreht. Aber das ewige an die Decke starren und von draußen träumen, ein Zustand, den ich schon aus meinem Kinderzimmer kannte, lies mich im Nachhinein denken, ich hätte Zeit verloren und gab mir dann den Gegenimpuls zu reisen, um sie mir zurückzuholen, analog zum Weglaufen von Zuhause, um der, von mir persönlich so empfundenen, Monotonie der Vorstadt zu entfliehen. Wäre ich ein anderer und mein Verhältnis zum äußeren Umstand Stille anders, dann wäre ich nicht von Zuhause weggelaufen, hätte keine Drogen probiert, wäre nicht im Entzug gelandet und mein ganzes Leben wäre anders verlaufen. Die von mir, einst so verhassten, konformen, gleichförmigen Gestalten haben vielleicht schlicht ein anderes Verhältnis zur Stille, sind vielleicht ausgeglichener und können ihre Zeit mit etwas füllen. Sich mehr auf ihre unmittelbare Umgebung fokussieren. Bisher dachte ich immer, mein Drang loszulaufen und mein Schweifen in die Ferne ist die Konsequenz einer inneren Fülle aus Neugier und Lebenslust, aber es ist verwirrend, wie sich immer auch das genaue Gegenteil plausibel machen lässt, und wenn ich den Standpunkt wechsle, könnte auch eine inneren Leere der Ursprung der Rastlosigkeit sein. Genauso wäre aber auch die Behauptung gerechtfertigt, wer nie rastlos durch die Welt gezogen ist, ist innerlich einfältig und leer, weil sie oder er in keiner Beziehung zur Welt steht, zumindest nicht zu den großen, dynamischen Dingen, die erst ein Durchdringen der Erscheinungen und Toleranz für Abweichungen im Kleinen ermöglichen. Und trotz einem gewissen Verständnis für die ruhigen, geregelten Lebensverläufe, die mir dennoch vorkommen, wie ein warten auf den Tod, brauche ich die Zerstreuung, um mich lebendig zu fühlen und kann nur über diesen Umweg zur Ruhe kommen.
Die äußeren Umstände sind nicht scheißegal, aber sie existieren nur in wechselseitiger Beziehung dazu, wie es innen aussieht. Äußere Stille kann einen innerlich Nervös machen, oder ausgeglichen. Und äußerer Lärm, kann einen genauso aufreiben oder beruhigen. Es gibt keinen Kausalzusammenhang zwischen dem einen Gefühl und dem anderen Umstand. Es kommt auf den jeweiligen Geisteszustand an, der wiederrum von Millionen anderen Gefühlen beeinflusst wurde und wird. Normalerweise ist es auch nicht nur ein Gefühl, sondern Nuancen von dem einen oder dem anderen, aus einem riesigen Spektrum an Farben, die ein vielschichtiges Bild zeichnen. Ich kann nur von mir sprechen und bei mir stachen immer das Unbehagen in der Stille und die Ausgeglichenheit im Lärm als helle Farben aus dem Bild hervor und es zieht mich immer raus in die Welt, weil ich den Details nichts abgewinnen kann, sondern nur den großen Zusammenhängen.
Christoph Sames
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