Helge Bewernitz für #kkl39 „Hinter der Zeit“
Heimkehr
Noch sechs Monate, 21 Tage
Sein Blick glitt über die weite, baum- und nebelverhangene Landschaft. Dahinter, das wusste er, lag das Überall. Er war nie dort gewesen. Aber er wusste, dass die alte Beata einst von dort hierher gekommen war. Er wusste auch, dass das Überall sich ständig veränderte. Er hörte die Leute manchmal darüber reden: „Dieser Ort ist verschwunden“, sagten sie, “schon lange. Und jener ist kaum wiederzuerkennen. Aber das macht nichts“, sagten sie manchmal noch. „Solche Orte gibt es überall. Das ist nicht wichtig.“ Solche Sätze konnten nur die Idioten sagen.
Manchmal besuchte er die alte Beata. Hinter ihrem windschiefen Haus, da war nur noch das Nichts. Die Idioten verschwanden manchmal im Nichts, sie vernebelten sich darin. So wie manchmal Schiffe weit draußen im Nebel verschwanden, das hatte er einmal im Fernsehen gesehen. Und wenn die Idioten zurückkehrten, redeten sie allerlei komisches Zeug. „Ja, ja, da steht jetzt ein Supermarkt – mit Scanner-Kassen – der Fortschritt ist eben nicht aufzuhalten.“ Oder: “Ja, da ist jetzt ein Autobahnanschluss, man ist in Minuten überall.“ Da war es wieder, dieses Überall.
Beata war schon sehr, sehr alt. Wie alt, das wusste sie selbst nicht genau. Vor vielen Jahren war auch sie aus dem `Überall´ hierher gekommen. Das war so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte. „Beata“, fragte er sie manchmal, „sag´ mir, wo dein Überall liegt.“ Und dann sagte sie meistens so etwas wie: „Ach, weißt du, das ist doch nicht so wichtig. Es liegt weit fort von hier.“ Dann gab sie ihm eine Stulle und eine warme Milch. Er stellte sich dann vor, dass sie vielleicht von den Sternen gekommen war. Weiter als das konnte es ja nicht sein, ihr Überall. In seiner Fantasie stieg sie auf einer Treppe aus Sternenstaub hinab, immer weiter, hinter ihr die goldenen Schatten eines roten Mondes. Und hinter ihr auch etwas Dunkles, hinter einem Nebel, aus dem es schemenhaft hervortat.
Manchmal versuchte er, sich daran zu erinnern, wann er Beata kennengelernt hatte. Wie sie damals aussah. Wie sie gesprochen hatte. Aber so sehr er es sich auch wünschte, es wollte ihm nicht recht gelingen. Sie war ihm so vertraut, dass sie untrennbar mit seinem Leben verbunden war. Wie eine Welt, die nur dank ihr existieren konnte. Es war, als wäre sie von Anfang an da gewesen; er wusste aber, dass das nicht stimmte. Aber das machte ihm nichts aus.
Noch drei Monate
In den nächsten Wochen änderte sich etwas. Es kamen jetzt auch Idioten, die er nie zuvor gesehen hatte. Aus dem Nebel, aus dem Nichts. Sie beachteten ihn meist gar nicht. Einige trugen feine Anzüge. Bevor sie aus dem Nebel traten, waren ihre Stimmen meist schon zu hören, auch sie erst vernebelt, dann deutlicher und lauter “… ja, d … äre si… er gut. Ja, e… Ana .. n zeigen das. Genau, richtig…“ Dann traten sie ein in seine Welt, wie ungebetene Gäste, gingen ihres Wegs. Er beobachtete sie wie durch eine Linse, wie schiefe, vielbeinige Gestalten auf ihrem Weg zu einem verrückten Götzendienst, mit allerlei Opfern und Tand und alldem. Oder wie diese Geschichte, die der Mann in der Kirche erzählt hatte, über Menschen, die einen sehr hohen Turm bauten.
Er beschloss, Beata nichts davon zu erzählen. Sie verließ kaum noch ihr Haus.
„Beata, erzähl´ mir doch ein wenig von dort, wo du herkommst“, versuchte er es manchmal wieder. „Nun… lass mich überlegen“, sagte sie dann manchmal doch. Er betrachtete sie; wie sie da am offenen Kamin saß, ihre sehr langen und sehr weißen Haare, fast an ihrem Ende erst gebunden zu einem ausladenden Zopf. Ihren vielfach geflickten Rock. Ihre alten, nicht weniger oft reparierten Schuhe. Dieser Ring an ihrer linken Hand, mit dem grünen Edelstein. Ihre Augen aber, die waren noch sehr wach. Und wenn sie erzählte, dann blickte – fast starrte sie – ihn direkt an. Allerdings hatte er dann gleichzeitig das Gefühl, dass sie nicht ihn sah. Nein, dieser Blick, er reichte weit zurück in die Vergangenheit, sogar bis weit zurück vor ihre Geburt. „Dort, wo ich herkomme, dort gibt es hohe, bewaldete Berge und Seen voller Leben, im Sommer der blühende Ginster, die Düfte der Rosen und Narzissen. Ein Leben ohne Uhren, alle lebten im Kommen und Vergehen der Zeiten. In diese Welt wurde ich hineingeboren. In dieses Glück.“ Und immer, wenn er hoffte, dass sie weiter erzählen würde, brach sie ab. Dann starrte sie. – Aber sie erzählte weiter, nur stumm. Sie erzählte es sich selbst. Oder jemandem, der nur noch in ihrem Kopf existierte. Meistens schlief sie auch bald danach ein. Sie schlief sehr viel in letzter Zeit.
Noch 14 Tage
Mittlerweile waren mehr fremde Idioten hier als solche, die schon immer hier lebten. Einige blickten ihn an, als wollten sie sagen `Wer bist denn du?´ Aber nicht so, wie man einen Fremden anblickte, um ihm Obdach und Essen anzubieten, sondern so, wie man jemanden ansah, der geduldet war. Die meisten Idioten traten in der Nähe des großen Feldes aus dem Nebel, da, wo die große Straße lag. Sie trugen melonenartige Hüte, karierte Jacketts, schwarze, blank geputzte Schuhe und weiße, glatte Socken. Die meisten trugen auch einen fein gestutzten Bart. Sie unterhielten sich in einer fremden Idiotensprache, schnüffelten hier, gestikulierten da, immer mit diesem idiotischen, feinen Lächeln im Gesicht.
Abermals entschied er, Beata nicht davon zu erzählen.
Und dann begann dieses … dieses Werken. Mal dumpf, mal hell . Es begann an mehreren Orten, fast gleichzeitig.
„Was ist dort draußen? Es ist so laut neuerdings.“ So gut ihre Augen waren, so schlecht funktionierten ihre Ohren. Aber selbst mit diesen schlechten Ohren merkte sie auf, so laut drang das Werken der Idioten heran. „Ach, Beata, das ist nichts. Erzähl´ mir doch von früher.“
„Deinen Vater, den habe ich gut gekannt“, fing sie auf einmal an, beiläufig, als sie einen Topf mit Milch auf einen uralten Herd stellte. „Als ich herkam, war er auch nicht mehr der Jüngste. Aber er hat mich aufgenommen, wie eine verlorene Schwester. Viele Tage war ich zu Fuß gelaufen, am Ende mit einem Schuhwerk, das diesen Namen nicht mehr verdiente. Sein Haus war das erste, das ich nach meiner langen Wanderung sah. Ich klopfte, als sei das ganz selbstverständlich, so wie man bei einem alten Freund anklopft, wenn man gerade in der Nähe ist. Dein Vater öffnete, und das nicht nur einen Spalt. Er hatte wohl von Leuten wie mir gehört und bat mich sofort in sein Haus. Er wollte gerade essen. Aus einem Schrank holte er einen Teller und Besteck hervor. Dass ich gestunken habe von der langen Reise, ließ er sich nicht anmerken. Dein Vater, das war ein guter Mann.“ Während sie erzählte, werkelte sie weiter in der Küche, schlurfend, und servierte ihm schließlich warme Milch und zwei Stullen. „Und weißt du, was ich besonders an ihm mochte? Dass er keine Fragen stellte. An diesem Ort hier, da fühlte ich mich zu Hause. Die Leute hier stellen keine Fragen. Sie sind eins mit dem Land, mit sich. So kannte ich es von zu Hause auch.“ Er überlegte, ob er alles verstand, was sie sagte. Aber er kam nicht weiter dazu, denn in diesem Moment klopfte es. Beata schlurfte zur Tür und öffnete.
Von außen ist es manchmal einfacher: Man sieht zu, aus nächster Nähe, aber man gehört nicht dazu. Da standen drei Idioten vor Beatas Haus: Einer ähnelte einem Walross, das einen dichten Backenbart und einen unglaublich fetten Bauch hatte. Den Bauch konnte der Idiot nur durch strikte Kleidungswahl daran hindern, seine fleischige Existenz zur Schau zu stellen; ein anderer erinnerte ihn dagegen an eine Gazelle, so dünn und flink, als würde er im nächsten Moment unvermittelt wieder davoneilen; beim Anblick des dritten Idioten aber fuhr ihm der Schrecken in alle Glieder. `Das ist der Gefährlichste´, dachte er. “Beata, das ist der Gefährlichste, hörst du!“ Aber wie in einem Traum konnte er nicht sprechen. Alles vernebelte sich, zuerst Beatas Haus, dann die Idioten und ganz am Schluss auch Beata. Dazu diese Musik, wie auf einem alten Jahrmarkt – Tschumdadei, tschmudadei … die Menschen grinsten ihn an, erst freundlich, aber dann nahmen sie ihn in ihre Mitte, begannen den grausamen Tanz einer schwarzen Messe, rhythmisch, wie aus einem Mund – Tschum! Da! Tschum! DA! DA! – Fratzen grinsten ihn an, käferartige Arme griffen nach ihm, wurden schneller, näherten sich immer mehr, waren nun ganz nah, so sehr, dass ihm ihr Pestgestank tief in die Nase stieg, sie schrien in einer unverständlichen Sprache und .. dann war nur noch Nebel. Und Stille.
Noch drei Tage
Weiß, weiß, weiß. Die Teufel waren fort. Aber er war noch da. Zumindest glaubte er das, denn er konnte seine Hand zwar nicht sehen, aber doch spüren. Sie lag auf einem kalten, feuchten und erdigen Untergrund. Der Duft offenbar frisch umgegrabener Erde freute ihn. Er stand auf, auch seine Beine mussten also noch funktionieren. Wenn er doch nur etwas sehen könnte! Ganz vorsichtig setzte er Schritt vor Schritt. Er sog die fast eisig kalte Luft auf. Aber ihm war warm, er spürte den dicken Stoff seines Mantels. Dann stieß er gegen etwas. Er bückte sich und versuchte, es zu ertasten. Erst glaubte er, ein Stückchen seines Mantels zu fühlen, aber dieser Stoff war feiner. Er befühlte ihn nun auch mit der anderen Hand. Darunter war Haut. Was auch immer da vor ihm lag, es war ganz kalt. Und er spürte auch etwas Hartes; das war Beatas Ring dort in seinen Fingern. Ein sehr schöner Ring mit einem grünen Edelstein.
Sie fanden ihn Tage später, in einer Kammer. Ein Idiot legte ihm so etwas wie eine Manschette an, die ihn sehr drückte. Ein anderer hatte eine Nadel in seinen Arm eingeführt, über die eine Flüssigkeit in seinen Körper tröpfelte. „Na, wie geht’s uns denn?“, fragte der erste Idiot. ‘Du Idiot‘, dachte er. ‘Wie es mir geht, interessiert dich nicht!‘ „Sie waren ohne Bewusstsein, aber jetzt ist alles gut. Wir bringen sie in ein Krankenhaus.“ In ein Krankenhaus. Er wusste, was das bedeutete. Er würde sich mit den Idioten vernebeln, in ein Irgendwo. Sie fuhren ihn auf einer Art rollenden Liege auf die Straße. Allerlei Idioten gafften ihn an, wie eine Herde, deren malmendes Tagwerk unterbrochen worden war.. Ein Kleines kam ein paar Schritte auf ihn zu. Seine idiotischen Augen schielten in seine Richtung, dann drehte es sich um und lief zu Mama. Aus dem Wagen heraus erhaschte er einen Blick auf den Ort, an dem einst Beatas Haus gestanden hatte. Da standen Bagger, Laster, Arbeiter schaufelten, bohrten, zwickten und zwackten das Land. Ein großes Schild stand davor. Er konnte es gerade noch entziffern. „F – A – B – R – I -K – .. – .. J – E – .. – .. – .. B – E – W – .. – .. -. … Darunter sah er das Bild der Gazelle. Sie grinste ein idiotisches Grinsen. Dann erschrak er zutiefst: Unvermittelt blickte sie ihn an, die riesige Plakat-Gazelle: Ihre Augen rollten und fixierten ihn. Dann löste sich die Gazelle von ihrem Hintergrund, ein riesiger Arm langte nach ihm, ein Bein schwang hervor und versuchte, ihn zu treten, schließlich stürzte sich der ganze, riesenhafte Körper auf ihn, drückte, quetschte, malmte, matschte.
Dann vernebelte er sich ins Nichts.
Die Bewohner erzählten sich viele Jahre später von einem Irren, der lange hier gelebt hatte, jetzt aber schon lange nicht mehr. An seinen Namen konnte sich niemand erinnern.
Und seine Seele fuhr hinauf, grub sich durch allerlei Schichten aus Zwietracht und Hass, Zärtlichkeit und Liebe, bis sie – im Himmelreich angekommen – endlich einmal alles von oben betrachten konnte. Und das sah sie: Aufgegebene und Aufgebende; tüchtige Väter und liebende Mütter; im Schlamm spielende, halb verhungerte Kinder; Schwache, die wie David gegen Goliath siegten und Starke, deren weite Herzen den Schwachen Obdach boten; in liebenden Händen geborgene Alte; vor walzenden Baggern Fliehende; verbrannte Landschaften; sich reichende Hände, sich schlagende Hände; schreiend Glückliche, schreiend Unglückliche, um das Glück Betrogene, um das Glück Betrügende, und so fort, und so fort, und immer so weiter, immer so weiter.
Oder?
Helge Bewernitz, Jahrgang 1973, hat nach dem Studium (M.A.) der Soziologie in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Compliance und Bildung gearbeitet. Diverse Veröffentlichungen in Anthologien. An seiner Wahlheimat Berlin schätzt er das Bunte und Laute ebenso wie ausgedehnte Spaziergänge im Grunewald.
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