André Hénocque für #kkl40 „Friedenskultur“
Der Feind
Jacqueline Schmitz, eine echte Rheinländerin, hatte Humor, war aufgeschlossen
und tolerant. Jedenfalls sagten es die Meisten, wenn sie von ihr sprachen. Die
hübsche Blonde selbst war mit diesen Zuschreibungen einverstanden.
Heute hatte sie den Nachmittag frei und Jacqueline genoss den kühlen Rosé
auf der Terrasse des Jugendheims. Sie war als Begleiterin und Animateurin
einer Gruppe von jungen Mädchen engagiert worden, die kaum älter als sie,
ihren ersten längeren Auslandsbesuch hier verbrachten. Das Ziel oder
zumindest die Absicht dieser vom Ministerium subventionierten Fahrt, bestand
im Kennenlernen der Besonderheiten von seit Generationen verfeindeten
Nachbarn. Die jungen Leute sollten den Grundstein des Gebäudes für das Verständnis
und die gegenseitige Achtung legen.
Das Mädchen war aufgestanden und blinzelte in die Sonne. „Langsam wird es mir
langweilig. Immer nur chillen und Rosé sind auch keine Lösung. Ich werde ins Haus gehen
und sehen, ob ich ein interessantes Buch finden kann. Dabei kann ich sogar meine
Sprachkenntnisse verbessern.“ Die kleine Bibliothek befand sich im ersten Stock, im
letzten Raum am Ende des Flurs. Auf dem Weg dorthin kam Jacqueline an einer offenen
Tür vorbei, die den Blick auf eine Treppe freigab, die hinaufführte. „Es muss also
einen Speicher geben. Vielleicht gibt es dort spannende Sachen. Alte Truhen, Kleider,
Spielzeug oder wer weiß was!“ Sie schaute sich noch einmal um, dann ging sie schnell
die Stiege hinauf.
Der Speicherraum erstreckte sich über die gesamte Länge des Gebäudes. Es war staubig
und dunkel, aber zu ihrer Überraschung gab es einen Schalter, der eine einzelne Birne
zum Leuchten brachte. „Also nicht seit Jahren unbesucht. Hier werde ich bestimmt keine
versteckten Schätzchen finden. Schade!“ Jacqueline war enttäuscht. Sie ging noch wenige
Schritte und bemerkte einige Koffer verschiedener Größe in einer Ecke. „Könnte sich
etwas Altes ´drin befinden.“ Sie setzte sich auf einen kleinen Hocker und öffnete den
größten Koffer. „Nur Bettwäsche und Vorhänge. Wer verwahrt denn so was?“ Nach
einander durchsuchte sie die Koffer, immer in der Hoffnung auf alte Schuhe oder ein
Brautkleid. Zumindest einige Hüte sollten sich finden lassen. Aber die Hoffnungen
erfüllten sich nicht. Nichts interessantes oder Verwertbares. Seufzend öffnete sie
einen der kleineren Koffer. „Ziemlich schwer. Sicher das Gold der Familie!“ Sie kicherte
vor sich hin. „Nur alte Bücher und Dokumente! Mist! Teilweise auch noch in alter
deutscher Schrift, Sütterlin oder so!“ Sie war neugierig geworden. Wie kommen
solche Sachen auf einen Speicher im Ausland? Sie stellte sicher, dass es der einzige
Koffer mit einem Inhalt war, der die Mühe lohnte genauer betrachtet zu werden.
Den kleinen Koffer schleppte sie in ihr Zimmer. Eigentlich teilte sie es mit ihrer
Freundin Anne, die jedoch mit einem Teil der Mädchengruppe ein Wochenende
In der Hauptstadt verbrachte. „Sehen wir ´Mal was das ist!“ Jacqueline sortierte
den Inhalt des Koffers nach Büchern, offiziellen Schriftstücken und privaten
Briefen. „Die Bücher können warten. Die offiziellen Dokumente haben schöne
Stempel und Briefköpfe. Die zuerst.“ Sie versuchte eine chronologische Ordnung
zu erhalten. Die ältesten Exemplare wiesen Daten aus dem vorletzten Jahrhundert auf.
Es handelte sich um Verlautbarungen der deutschen Besatzungsmacht, Vorschriften,
Erlaubnis- und Passierscheine, Gebührenquittungen und Ähnliches mehr. Alles war
auf schönem, dicken Kanzleipapier mit Feder geschrieben und amtlich besiegelt.
Ein zweiter Stapel, wiederum von deutschen Stellen ausgefertigt, war genauso
amtlich, aber weniger ansehnlich. Papiere über Räumungen, Abgaben und
Einquartierungen, wechselten sich mit Urlaubsanträgen und Verlustmeldungen ab.
Der dritte Stapel war etwa 70 Jahre alt. „Mein Opa dürfte zu der Zeit ein junger
Mann gewesen sein.“ Die amtlichen Dokumente ähnelten den älteren, wenn
sie auch viel knapper gehalten und auf billigem Papier ausgestellt worden waren.
„Alles scheint sich zu wiederholen. Die Aussteller und offiziellen Stellen wechseln,
die Verordnungen und Erlasse bleiben gleich. Die privaten Briefe könnten mehr
aussagen, obwohl ich nicht gern in Privatsachen schnüffle. Aber Absender und
Empfänger sind bestimmt schon tot. Und ich werde nichts weitererzählen.“
Jacqueline holte sich schnell noch ein Glas Wein bevor sie die Schriftstücke auf
dem kleinen Schreibtisch ausbreitete. Insgesamt gab es nur 9 Briefe und zwei
amtliche Verlautbarungen. Es handelte sich um die Liebesgeschichte zweier Menschen,
deren Schicksal durch die kriegerischen Auseinandersetzungen ihrer Länder
bestimmt wurden. Ein deutscher Landser hatte sich in die Tochter seines Wirts
verliebt. Diese Liebe wurde von ihr erwidert. Eine Fraternisierung war jedoch streng
verboten. Sie sahen sich nur selten, wenn er von der Front ins Quartier zurückkehrte
und sie ihn bei der Essensausgabe im Casino sehen konnte. Miteinander sprechen
durften sie nicht. Der Austausch von kurzen Briefen, die heimlich von Hand zu Hand
wanderten war die einzige Möglichkeit zur Beteuerung ihrer Liebe und zur Verabredung
an sicheren Orten.
Die Sicherheit eines solchen Orts erwies sich als trügerisch. Sie wurden verraten und
den Behörden angezeigt. Die Briefe waren der Beweis für ihre Schuld. Das erste Schriftstück
enthielt das Urteil des Kriegsgerichts, das den Gefreiten wegen Landesverrats und
Verbrüderung mit dem Feind zum Tode verurteilte. Die junge Geliebte wurde in ein
Lager geschickt. Sie überlebte die Besatzungszeit und kehrte nach Kriegsende in ihr
väterliches Haus zurück.
Hier könnte die Geschichte enden, doch Neid und die Sucht sich auf Kosten anderer
zu profilieren, sollten zu weiteren tragischen Ereignissen führen. Eine Nachbarin, die
selbst gern die Aufmerksamkeit der Soldaten erregt hätte, jedoch erfolglos blieb,
zeigte die Heimkehrende als Soldatenliebchen an. Man nahm sie fest, sie wurde
öffentlich misshandelt, geschoren, bespuckt und ins Arbeitshaus gesteckt. Aus
Verzweiflung und ohne Hoffnung auf ein glückliches Leben brachte sich die junge
Frau um. Das zweite Schriftstück war der offizielle Totenschein, der die nackte
Tatsache beschrieb, die Gründe dafür aber verschwieg.
Jacqueline ließ das letzte Schriftstück zu Boden gleiten. Sie wusste nicht, wen sie
mehr verachten sollte, die Militärbehörde oder das widerliche Pack, der blutrünstige
Mob. Sie war traurig und wütend zugleich. Wie dumm doch Menschen sein können.
Sie ging auf die Terrasse. „Hallo, Jacqueline!“ Alphonse winkte ihr zu und schob sein
Fahrrad den Weg hinauf. Sie stürmte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Dabei
weinte sie, schluchzte und wollte sich gar nicht beruhigen. Alphonse wusste nicht wie
ihm geschah. Es hatte sein Fahrrad fallen lassen und hielt Jacqueline mit beiden
Armen umschlungen. „Das wird uns nicht passieren! Das kann uns nicht passieren!
Wir lassen es nicht zu! Diese Idioten werden uns nicht auseinanderbringen!“
„Natürlich nicht. Auf keinen Fall.“ Der junge Mann ahnte nicht einmal worum es ging,
stimmte dem Mädchen aber zu. Sie blieben lange stehen und hielten sich ganz fest.
Am Abend gab es einen Gastvortrag, Titel: „Friedenskultur“. Alphonse war erstaunt,
wie engagiert Jacqueline sich dieses Themas annahm. Erst später offenbarte sie sich
ihm und ließ ihn die Dokumente lesen. Eine abstrakte Bezeichnung bekommt einen
tieferen Sinn, wenn man Menschen damit verbinden kann, auch wenn man sie nicht
persönlich gekannt hat.
André Hénocque, Philipp-Reis-Str.8, D50126 Bergheim
Geb. 29.08.1948 in Hagen/Westf.
Verheiratet, 3 Kinder, 5 Enkel
Rentner, früher Industriekaufmann
Email: hq@webdbu.de
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