Die weiße Fahne

Helmut Hostnig für #kkl40 „Friedenskultur“




Die weiße Fahne

Die Straße ist noch nicht geteert. Fuhrwerke hinterlassen Rillen, in welchen sich das Wasser sammelt, wenn es geregnet hat. Anfang und Ende der Straße verlieren sich in jeder Blickrichtung am Horizont, da es auf beiden Seiten bergab geht. Sie ist von Häusern gesäumt, die alle gleich ausschauen. Sie wurden mit Hilfe von Wüstenrot gebaut. Das war kurz nach oder mitten im zweiten Weltkrieg. Sie sind also nicht viel älter als er. Er? Er ist mein Ich aus einer längst vergangenen, ja untergegangenen Zeit. Sie stehen nicht eng, Haus an Haus, nur getrennt von Garageneinfahrten wie in anderen Siedlungen; zwischen ihnen ist Raum, da zu jedem Haus ein kleiner Garten gehört, in dem damals alles angebaut wurde, was das Haushaltsbudget der hier angesiedelten und zu jener Zeit noch kinderreichen Familien entlastet hat. Manche Häuser sind neu verputzt worden, andere durch Zubauten kaum wieder zu erkennen. Ganz wenigen sieht man die Zeit an. Da bröckelt die Mauer, und die Hauswand ist so grau wie der Himmel im November. Er ist in einem von ihnen groß geworden.

Selbst die Veränderungen, welche die Bauwut der zurückliegenden Jahre verschuldet hatte, in denen er sich seiner Herkunft entronnen glaubte, konnten ihn nicht täuschen; hier war die Zeit stehen geblieben oder angehalten worden. Auf der Suche nach dem Ich, das ihm als Kind eigen war, geht er um das Haus herum und stellt fest, dass selbst die Dauer im Wandel ist und der Wandel das Einzige, was dauert. Manchmal aber sind Erinnerungen so mächtig, dass sie die Gegenwart zur Bühne macht, in welcher Vergessenes wieder aufgeführt wird. Ähnlich einem Traum kurz vor dem Erwachen:

Die Straße, die zum Haus führt, ist leer und doch spielt mitten auf ihr ein Kind mutterseelenallein mit einem Hund aus Holz, den es auf Rädern an einer Schnur hinter sich herzieht. Plötzlich fällt der lebendig gewordene Hund das Kind an; es will davonrennen, wie man in einem Traum fliehen will und sich nicht rühren kann. Er sieht die mit Kreide aufgetragenen, aber vom Regen schon verwaschenen Kreuze mit dem Himmel und der Hölle, in denen sie mit Sprungseilen Tempel hüpften, bis es Nacht war. Er hört die Auszählreime: „Ene, mene muh und raus bist du!“, wenn sie Blindekuh spielten, und er kein Versteck suchen musste, weil es ihm genügte, die Augen zu schließen, um nicht mehr gesehen zu werden; ihm ist, als sähe er sie in gespielter Panik auseinanderstieben, um die Furcht vorm schwarzen Mann zu zeigen. Sie, die Kinder, die sie waren, damals in jener fernen Zeit, in welcher er sich nur mit gekreuzten Beinen auf einen Teppich setzen konnte, um mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen fliegen zu können. Nichts war ihm geblieben als diese Abfolge von Bildern, die nur in seinem Kopf existierten. Traumbilder, die im Fliehen sich jagen und gegenseitig vernichten. So gegenwärtig wie vergangen, so verloren wie gefunden: wie ein Schatz, den man birgt, obwohl er wertlos ist; den man behält, weil seine Bergung fast unüberwindbare Schwierigkeiten bereitet oder beinahe das Leben gekostet hat. Etwas, das man erst besitzt, wenn man es verloren hat.

Er sieht seine Katze im Garten liegen mit einem Strick um den Hals. Der Nachbar hat sie erhängt und über den Zaun geworfen, weil sie in seinen Werkzeugschuppen geschissen hat. Der Bauer jagt sie mit seinen Hunden, wenn sie eine Abkürzung zum Kindergarten über die Wiese nehmen; Mutter-Lena vom Orden der Barmherzigen Schwestern lässt sie mit Brennnesseln den Hintern versohlen, wenn sie nicht brav sind.  Draußen vor dem Kindergarten wartet der Mohrenpeter, der nicht hineindarf, weil er ein Kind der Schande ist.

In ein Monster verwandelst du dich, um sie zu Tode zu erschrecken: dreiköpfig, schlangenhäutig, katzenäugig, doppelzüngig. Du hörst sie winseln, um Gnade flehen, klein werden siehst du sie, im Staub kriechen. Du wirfst dich in deinen samtenen Umhang, der außen schwarz ist und innen rot, und bestrafst die, die glauben, dass sie so mit Wehrlosen umgehen können. Du nimmst Rache, stellvertretend auch für die anderen, denen es geht wie dir. Niemand glaubt dir, dass du es warst, der diese Tat vollbracht hat, und jetzt niemand mehr auf jemanden losgehen kann, nur weil er klein ist; aber du darfst es nicht sagen, weil du das Geheimnis nur um diesen einen Preis verraten kannst, nie wieder dich verwandeln, nie wieder träumen zu können. Du kennst das alles und vielleicht Schlimmeres. Ja. Sicher. Es gibt Schlimmeres. Du bist Benjamin, hast dich im Uhrenkasten versteckt und musst zuschauen, wie der böse Wolf deine Geschwister verschlingt. Du bist Aschenbrödel und weinst am Grab deiner Mutter. Du bist Hänsel, der in einem dunklen Verlies gemästet wird. Du bist Dornröschen, das sich eben mit der Spindel gestochen hat. Du bist der Frosch, der auf dem Grund eines Brunnens auf die goldene Kugel wartet. Du bist Schneewittchen, das mit dem Schnürriemen erstickt wird. Der Knabe bist du, der den Eisenhans befreit, aber seinen Brunnen entehrt hat und nun erfahren soll, wie die Armut tut. Du bist der, der mit einem Löffel, der ein Loch hat, den Teich ausschöpfen, das Stroh zu Gold spinnen, der Erbsen und Linsen aus der Asche lesen muss.

Heute aber ist er der, den die Feuersteins im Werkzeugschuppen ihres Gartens gefangen halten und es ist ihm kein Trost zu wissen, dass alle nach bestandenen Proben reich werden und glücklich, denn es ist dunkel und kalt. Es riecht nach Schimmel und Moder. Überall Farbtöpfe. Große und kleine. Gießkannen. Verrostetes Werkzeug. Ein kleines Fenster mit zerbrochener Scheibe, durch das milchig trüb ein müdes Licht hereinfällt. Kegelartig schneidet es eine Gruppe von Maltöpfen aus, als hätten sie eine Bedeutung, von der er nichts weiß. Alle wissen, dass er hier ist, versucht er sich zu beruhigen. Sie werden kommen, um ihn zu befreien, da ist er sich sicher. Nur wann? Schreien? „Wenn du auch nur einmal schreist“, hat die Rote gedroht, „dann schneide ich dir die Zunge raus.“ Die Rote war der Boss der Feuersteins. Wild wie eine Aster, die das bisschen Erde in den Fugen zweier Pflastersteine nutzte, um zu überleben; sanft wie ein Werwolf, wenn der Mond eine Sichel ist. Schön wie der Kuss eines Pumas zwischen den Augen seines Opfers.

Das kommt davon, wenn man ein Held sein will und in die Hosen macht, weil man Angst hat. Aber wenn ich da rauskomme, werde ich zu den Weißen Pantern gehören. So tröstet er sich oder versucht es wenigstens.

Er wollte dazu gehören. Um jeden Preis. Die Aufnahmebedingungen sind zwar hart, aber ich werde sie schon schaffen, hat er sich gedacht. Dann darf er endlich auch ein weißes Stirntuch tragen, wie die anderen. Eine Mutprobe hatte er schon abgelegt, aber leider nicht bestanden. Die Frage war, wer die Friedensver-handlungen mit den Feuersteins führen sollte, da sie für den Kampf noch nicht gerüstet waren und sie hinhalten wollten. Die Feuersteins brauchten keinen Namen für ihre Gang. Der Familienname genügte. Sechs waren es: Kinder und Jugendliche, angeführt von der Ältesten, die ihr Boss war. Wer allein unterwegs war, um für Onkel oder Opa oder im Auftrag von Erwachsenen Zigaretten zu kaufen oder eine Flasche Bier, dem wurde aufgelauert, und er konnte von Glück sprechen, wenn ihm nur das Geld abgenommen und er nicht obendrein auch noch verprügelt wurde. Sie lebten in Baracken am Fuß des Felsens, auf dem die Wüstenrotsiedlung angelegt war. Niemand legte es sich mit ihnen an, auch die nicht, die uns losgeschickt haben. Kurzum: sie waren gefürchtet. Eigentlich war es seine erste Begegnung mit dem Anderen; mit denen, die von auswärts kamen und nicht hierhergehörten.  Fremde also. Ausgesiedelte. Südtiroler.

Wer spricht mit der Roten? fragt Bohnenstange, der Anführer der Weißen Panter. Alles schweigt, senkt den Blick; sogar Erich, der Unerschrockene. Da könne er sich ja gleich von seinem Vater verprügeln lassen, und Rübenack-hatfröschimsack-undallemachen-quackquackquack sieht sich schon wie bei den Kannibalen in einem Kochtopf über dem Feuer, weil er so fett ist, dass er das Schwimmen erst gar nicht lernen hat müssen. Das war seine Chance. So schnell würde er keine mehr kriegen. Bohnenstange und die anderen sind nicht wenig erstaunt, als er sich anbietet, der Roten ein Friedensangebot zu unterbreiten. Es ist das erste Mal, dass der Anführer der Weißen Panther auf ihn stolz zu sein scheint. Keiner außer ihm, den Bohnenstange bis dahin für einen ausgemachten Feigling gehalten hatte, will dieses Unternehmen wagen.

Wenn du zurückkommst, bist du so gut wie aufgenommen, versprach er, und L. schämte sich sogar, weil er sich die Aufnahme so leicht machen wollte. Was sollte schon schiefgehen? Er würde ein weißes Taschentuch auf einen Stecken binden – für alle gut sichtbar, so, wie er‘s gelesen hat – und damit auf die Feuersteins zugehen und die weiße Fahne schwenken. Das ist doch das allen bekannte Zeichen für jemanden, der in friedlicher Absicht kommt und keine Waffen mit sich führt, oder?

Jetzt sitzt er grün und blau geschlagen in diesem Werkzeugschuppen und wartet auf seine Befreiung. Das kommt davon, wenn man so hochnäsig ist und voraussetzt, dass andere das gleiche Buch gelesen haben. Woher soll die Rote denn von diesem Zeichen für Frieden wissen? Sie spuckt auf Bücher, sie hasst Schule und sie verachtet den, der liest. Das weiße Taschentuch? Sie hat es wohl als Fahne des Feindes gelesen. Das alles geht ihm durch den Kopf. Während er so dasitzt, noch immer fassungslos, steht plötzlich die Rote vor ihm. Er will sich ducken, um die nächsten Schläge zu empfangen, … da lacht sie und sagt: Du brauchst keine Angst haben. Wir sind hier ganz allein. wir haben dich prügeln müssen, verstehst du?

Er versteht zwar überhaupt nichts mehr, aber es ist schön, ihre Stimme zu hören. Als würde sie ein kleines Kind in den Schlaf singen wollen. Jetzt setzt sie sich auch noch neben ihn und fährt ihm zärtlich durchs Haar. Das hätte sie nicht tun dürfen, denn nun sind alle Dämme gebrochen und er beginnt hemmungslos zu schluchzen. Sie bettet seinen Kopf in ihren Schoß und er möchte plötzlich ein Mann sein, nicht mehr weinen und kann nicht aufhören und möchte, dass niemand mehr kommt, ihn zu befreien, dass nie wieder etwas, dass nichts mehr sie trennt, aber da steht sie schon wieder auf, so plötzlich, dass sein Kopf auf den Boden schlägt, wischt den Staub von ihrem Rock, bündelt ihr rotes Haar, das im Sonnenlicht auffunkelt und sagt – nicht mehr zärtlich, sondern barsch: „Bestell Bohnenstange, dass er das nächste Mal selbst kommen soll, wenn er was will, und dass er ein Feigling ist, und dass er sich ein Beispiel nehmen soll an dir!“ Kaum hatte sie das hervorgestoßen – breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt – macht sie auf dem Absatz kehrt und will davoneilen, als sie jäh innehält, sich noch einmal umdreht, auf ihn zufliegt, ihm einen Kuss auf den Mund gibt, und dann davonstürzt, als hätte sie ein unverzeihliches Verbrechen begangen.

Nach der Begegnung mit der Roten war der Bann gebrochen. Nicht, dass sie Freunde wurden, die Feuersteins aus den Baracken und die aus der Wüstenrotsiedlung, aber sie duldeten sich gegenseitig und ließen einander in Ruhe. Die Weißen Panther waren Geschichte. Obwohl ich monatelang in die Rote verliebt war, hatte ich nie den Mut aufgebracht, sie noch einmal – diesmal aus freien Stücken – aufzusuchen. Vielleicht hatte ich mir das alles ja nur eingebildet. Vielleicht wollte ich mir eine Demütigung ersparen. Ich blieb ihr aber bis heute für die Belehrung dankbar, dass Sender und Empfänger über das gleiche Zeichenrepertoir verfügen können müssen, um friedvoll und ohne Missverständnisse mit Menschen aus anderen Kulturen kommunizieren zu können.




Helmut Hostnig

Jahrgang 1948, geboren in Dornbirn/Vorarlberg, Besuch des Bundesgymnasiums in Bregenz mit Matura 1967, 1968 bis 1974 Studien n Germanistik/Theaterwissenschaft UNI Wien, Malerei und Grafik an der Hochschule für Angewandte Kunst, 1972 bis 74 Pädagogische Akademie Wien

Einjährige Auslandsaufenthalte in Südamerika und Frankreich

1974 bis 2008 Lehrer in öffentlichen Hauptschulen und Polytechnischen Schulen Wiens. 130 Radiosendungen im Rahmen der Wiener Radiobande

Nach Pensionierung 2012 – 2014 Radioarbeit mit PTS (Polytechnische Schule im dritten mit BMfUK und Wien Xtra Medienzentrum)
Referent bei Lehrgang „Implementierung von Radio im Schulbetrieb“ in Graz

Nominierungen für Hörspiele in Berlin, Leipzig und Wien

Publikationen: Mitautor: Außenseiter in der Heimgruppe und ihre Integration, Pädagogik der Gegenwart; 1974; Soziale Balance, Erzählung Hannah, Dorante Edition 2012 Artikel in Medienimpulse, Radiobox/New academic Press, 2015;

Hörspiele: „Unvergessen“ mit Werner Pöschko; 2013, ORF„Er+Ich: Totenschmaus für Erich“, 2015, ORF „Vogel auf dem Leim“, 2018, Nominierung in Berlin

Derzeit: Manuskripteinreichung für ein vom ORF produziertes Hörspiel im Mai 2024







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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Potentialentfaltung und Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Ein Kommentar zu “Die weiße Fahne

  1. Schön erzählt. Erinnert mich an unsere Kindheit. Nur von der Roten wusste ich nichts. Hat mir mein Bruder verheimlicht.

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