Birgit Enderlein für #kkl41 „Rasender Stillstand“
Zehn
Sie sah durch die Scheibe und entdeckte ihn am letzten Tisch des Cafés. Den Kopf auf beiden Händen gestützt, las er in einem Buch. Sie ging nochmal einen Schritt zurück und verharrte einen Moment. Dann drückte sie die Klinke und trat ein. Er schaute auf, zur Tür und zu ihr, stand jetzt auf und lächelte. Gleich würden sie sich in die Arme nehmen und beide würden sie so kurz verweilen. Das taten sie immer, wenn sie sich trafen.
„eins, zwei, drei…“, zählte sie leise, als sie sich umarmten. Bei zehn ließ sie los und setzte sich ihm gegenüber, schnappte sich sein Buch und schaute neugierig auf das Cover: „Das hattest du doch schon das letzte Mal mit, meine ich.“ Sie lachte.
„Ja, mein Café Alibi Buch. Dachte, dass fällt dir nach drei Jahren nicht auf. Hab vergessen, dass du ein super Gedächtnis hast.“ Er lachte.
Kurz berührten sich ihre Hände, als sie ihm das Buch wieder zuschob.
Sie synchronisierten sich gegenseitig die letzten Jahre, bestellten zwischendurch zwei Milchkaffees und alberten vertraut herum.
„Hab ich Milchschaum im Bart? Das würde mich gleich unglaubwürdiger darstellen, als es eh schon wird.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, wischte er sich fahrig durch die ergrauten Stoppeln.
Sie schüttelte den Kopf und schnappte sich seine Hand.
„Was wolltest du mir denn Wichtiges erzählen?“
„Okay. Pass auf. Wenn du in der Lage wärst in der Zeit zu springen, wie in meiner Geschichte damals, weißte noch? Wohin würdest du springen wollen?“
Erschrocken schaute sie ihn an: „Dein Ernst?“
„Ich hab noch einen Sprung übrig und da dachte ich sofort an dich.“
Die Leichtigkeit zwischen beiden geriet ins Stocken, sie kroch schließlich gänzlich unter den Tisch, als wolle sie beiden eins auswischen.
„Okay. Ich weiß um deinen schrägen Humor, der mich oft umhaut, aber gerade machst du mir irgendwie Angst.“, raunte sie ihm zu.
„Ich mein’ das ernst. Wenn ich dir nur jetzt alles haarklein erkläre, flüchtest du wahrscheinlich direkt über die Toilette.“
„Ich muss trotzdem mal kurz.“
Sie lächelte angestrengt und huschte zur Toilette.
Auf der Toilette schaute sie zum winzigen Fenster, dann in den Spiegel und schüttelte den Kopf: „Unglaublich, der verarscht mich doch.“
Erschrocken schaute sie zur Tür auf, als die plötzlich aufging. Ein kleines Mädchen stolperte herein.
„Ich muss ganz dringend Pipi. Kann ich rein?“
„Du kannst“, sie hielt ihr die Tür auf, wusch sich die Hände, atmete tief durch und ging wieder raus.
Vor ihm auf dem Tisch lag jetzt ein ziemlich kleiner Controller.
Sie rollte mit den Augen und scannte den Raum ab, bevor sie sich setzte. Außer ihnen waren da noch drei weitere Gäste, die Kellnerin und das kleine Mädchen da. Das schlurfte eben händeabwischend an ihrer Hose zurück zum Tisch am Ende des Cafes.
‚Also vier könnten vermutlich helfen, sollte es heikel werden, grübelte sie.
„Setz dich und schau bitte nicht so. Wenn ich spinne, merken wir das ganz schnell beide. Also wo ist das Problem?“, flüsterte er leicht genervt.
„Das merkt der, der spinnt, leider nicht. Damit kenne ich mich bestens aus.“, blaffte sie ihn an.
Ebenso wusste sie darum, dass es absolut nichts bringt, Menschen, die gerade in ihrem Wahn sind, davon zu überzeugen, dass sie sachte entrückt bis komplett verrückt sind. War es nicht sogar so, dass man sich in gewisser Weise darauf einlassen sollte, überlegte sie und hörte sich plötzlich sagen:
„13. August 2014. Und wo gibst du das jetzt ein?“
Hatte sie das ernsthaft eben gesagt? Sie setzte sich vorsichtig neben ihn.
„Schau“, er dreht an einem Rädchen seitlich am Controller, welches neun mal knackte und in einer Art Display ratterten blassrote LCD Ziffern durch.
„Beim Ort brauchst du die korrekten Koordinaten, dafür ist die Uhrzeit nicht so wichtig. Wenn du konkret an den Moment denkst, katapultiert es dich schon exakt zeitlich dahin.“, er schob ihr den Controller zu.
„Okay, 51.0462228, 13.6810023“, murmelte sie mit Blick auf ihr Telefon, während sie Ziffer für Ziffern eintippte und hoffte, dass sie sich gut genug auf das Spiel einließ. Sie schaute kurz zur Kellnerin hoch, die eben an beiden vorbei rauschte.
Gern wollte sie ihn schütteln und anschreien, stattdessen fragte sie: „Wie komme ich denn zurück?“
Er schaute sie an, als hätte er genau auf diese eine Frage noch gewartet:
„Auch da gibt es den einen Augenblick. Den spürst du augenblicklich und so deutlich. Da reagiert eh der Controller und damit kommst du quasi zurück. Bereit?“
„Ja, mehr oder weniger“, sie nahm zögerlich den Controller fest in die Hand und war sich sicher, dass es hier gleich eskalieren würde.
Der Controller begann seltsam zu zittern.
Sie stand vor dem offenen Kofferraum ihres Autos, der Controller zitterte noch leicht in ihrer Hand. Die Sonne stand nicht hoch, aber es war ziemlich warm. Sie blinzelte und bemerkte ihren Mann, der neben ihr stand. Perplex reichte sie ihm eine Tasche, die sie in ihrer anderen Hand hielt. Ihr Mann baute diese in sein Kofferraumpuzzle passgenau ein und schlug den Kofferraum zu. Entgeistert schaute sie ihn an, dann wich sie schnell seinem Blick aus. Aus ihrer linken Hand ließ sie den Controller in ihre Hosentasche gleiten.
Ihr Atem stockte. ‚Die Uhrzeit stimmt‘, dachte sie. Sie traute sich kaum am Auto vorbei zu schauen, wagte es aber doch. Sie erblickte auf dem Fußweg ihren Sohn und daneben ihre Mutter, beide sprachen miteinander. Sie starrte ihre Mutter an.
‚Das kann doch nicht wahr sein.‘, schoss es ihr durch den Kopf. Dann schossen ihr Tränen in die Augen. Sie schluckte und bückte sich, tat so, als würde sie ihre Schnürsenkel zubinden, die sie an den Schuhen gar nicht hatte. Sie atmete tief ein, stand auf und ging zitternd auf ihre Mutter zu, die sich bereits von ihrem Mann und ihrem Sohn verabschiedet hatte. Beide saßen im Auto und schauten wartend. Sie gab ihnen mit einem Blick zu verstehen, dass sie genau jetzt nicht drängeln dürften. Dann wandte sie sich ihrer Mutter zu und hörte sich sagen:
„Mutti, ich ruf dich an, wenn wir da sind.“
„Mal sehen, ob ich da bin. Ich muss noch einkaufen heute Nachmittag. Sonst telefonieren wir einfach später.“ lächelte ihre Mutter und strich ihr eine Haarsträhne zärtlich hinters Ohr.
„Später“, flüsterte sie, wischte sich über die Augen und nahm ihre Mutter fest in die Arme.
Sie ahnte, dass jetzt genau der richtige Moment war, um zurückzukehren und vor allem auch mit ihr, das erschien ihr plötzlich glasklar.
Ganz sachte und leise zählte sie: „eins —— zwei—— drei —— vier —— fünf —— sechs ——sieben—— acht—— neun …“
„zehn.“, flüsterte ihre Mutter, streichelte ihr über den Kopf und löste sich aus der Umarmung: „Auf Wiedersehen.“
Sie spürte plötzlich in der Hosentasche den Controller, der heftig vibrierte, ihr wurde schwindlig. Sogartig zog es ihr die Beine nach hinten weg. Mit ihren Armen hielt sie die Schultern ihrer Mutter umklammert, die schienen sich jedoch aufzulösen, je stärker sie zugriff. „Neinnn, neinn, nein.“, schrie sie, schlug irgendwann mit den Armen um sich, dorthin, wo eben noch ihre Mutter stand, da schlug sie bereits ins Leere. Sie schluchzte, während sie realisierte.
„Auf Wiedersehen, Mutti.“
Sie sah durch die Scheibe und entdeckte ihn am letzten Tisch.
Sie schluckte, ihr Hals fühlte sich kloßig an. Sie griff nach dem Controller in ihrer Hosentasche, der noch leicht vibrierte. Sie holte tief Luft, dann drückte sie auf die Klinke und trat ein.
Er sah auf, sie an und lächelte.
Birgit aus Köln [born&raised in Dresden]
Schon als Kind fiel es ihr hier und da leichter, Bilder, die ihr im Kopf umher spukten und raus wollten, mit Worten zu zeichnen. Auf etlichen Nebenstrecken entdeckte sie Jahre später die Begeisterung für das Schreiben von Kindergeschichten. Mittlerweile tobt sich Birgit in zwei Welten aus, als Kinderbuchautorin und als Art-Direktorin. Ihre literarische Parallelwelt wird vertreten durch die Literaturagentin R. Kern (Agentur Brauer, München).
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