Thomas Schneider für #kkl42 „Selbstachtung“
VOR DER AMNESTIE
Einer mag hingehen. Er schaut sich misstrauisch um und salutiert. Die Falten auf seiner Stirn und der Uniformjacke über der Brust glätten sich; er atmet auf, sobald er erkennt, dass er den Raum nur mit mir teilt. Er händigt mir einen pauschalfrankierten Brief aus. Dann tippt er mit der Hand wieder ans Mützenschild und zieht von aussen lautlos die Tür ins Schloss, durch die er eben erst eingetreten ist. Als ich den Umschlag aufreisse, springt mich ein überladener Briefkopf an, aber kein Wort einer Botschaft – ein weisses Blatt unter einem schwarzen Balken.
Zwei fühlen sich stark. Einer drückt mir zur Begrüssung die Hand, während mir der andere leutselig auf die Schulter klopft, bevor sie den Spiess umdrehen. Sie leuchten die Ecken des Zimmers mit einer Taschenlampe aus. Ihre Erfahrung lehrt sie: ich hätte einen Freund hereinschmuggeln können, der im Dunkeln auf der Lauer liegt, um dazwischen zu treten, falls sie die Faust gegen mich erheben. Sie durchlöchern mich mit Fragen über meine Schlafgewohnheiten. Ich behaupte: ich schlafe bei der geringsten Bedrohung ein, und gähne herausfordernd. Sie schauen mich starr an. Wenn mein Blick einem Inquisitor ausweicht, endlich hat ausweichen können, fängt ihn der zweite mit einem kurzen Ruck der Augäpfel auf. Sie geraten jedoch darüber in Streit, wer mir die Fragen stellen darf.
Wenn ich dreien gegenüberstehe, sinken meine Schultern ein. Der Kopf rückt nach vorn wie bei einem flügellahmen Specht, der angesichts einer nahenden Raubkatze sein Henkersmahl aufpickt. Ich beginne zu stottern. Unreife Gedanken jagen ohne Ordnung durchs Hirn und schiessen sich mitten im Lauf gegenseitig ab, ehe ich sie zu fassen kriege. Lautlose Kollisionen, aber bei jedem Abschuss weiten sich die Pupillen mehr, um das nächste Quantum Leere zu enthüllen. Gleichgültig ob sie mir die Stirn streicheln oder ein Büschel Haare ausreissen, bricht kalter Schweiss aus den Poren der Haut. Ich lasse mich zu Boden fallen. Wie stehen sie zu mir? Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen, weil sie dauernd einen Stiefel vor das meinige halten.
Sie haben ein Quadrat mitgebracht, in Geschenkpapier eingewickelt, und sind selbstverständlich zu viert, Vierlinge mit verwechselbaren und wahrscheinlich auch vertauschten Köpfen. Sie packen es aus; eine schliche Holzplatte. Sie fordern mich höflich auf, die richtige Diagonale im Quadrat zu wählen. Ich frage: richtig in welcher Beziehung? Sie heben unbestimmt die Augenbrauen. Wir sitzen steif auf fünf Stühlen um einen runden Tisch. Die Scheibe der Tischplatte, die sich unentwegt und immer schneller vor den Augen dreht, von ihren Händen angetrieben, erlaubt meiner Aufmerksamkeit nicht, sich aufs Viereck zu richten. Meine Finger verkrampfen sich in der Luft, als wollten sie nach der einzigen Lösung greifen, die den Besuch verjagen kann, wie nach einer Decke, die mich verhüllen würde. Ich fahre mit dem rechten Zeigefinger ganz langsam von oben links nach unten rechts. Schon erscheint ein siegesbewusstes Grinsen, die an Zwirnsfäden zu den Kiefergelenken hinauf gezogen werden. Hinter jedem Ohr sirrt munter eine Spule.
«Gestehen Sie, dass Sie noch immer darauf hoffen, diesen Raum einst zu verlassen,» sagt einer. «Hinaus!» schreie ich. Sie wickeln das Quadrat überraschend gehorsam wieder ein und trippeln aus der Zelle. Das Papier, unter dem Druck ihrer unbarmherzigen Finger, raschelt und knistert im Treppenhaus, später im Hof am Fuss der scherbenbewehrten Mauer. Morgen werde ich zweifellos die Wanzen entdecken, die sie unter den Zierleisten über der Lamperie versteckt haben, um meine Selbstgespräche zu belauschen. Wanzen oder Läuse. Unternehmungslust hat mich gepackt, und darum würde ich mit meinen Fingernägeln auch am Grund der Kopfhaut nach dem Ungeziefer schürfen, falls sie es im Skalp ausgesetzt haben sollten.
Amnestie!
Warum nicht gleich.
Ich statte mir selber in den kahlen Mauern einen Besuch ab, erteile mir selber die Amnestie, ohne Gründe und Gegengründe abzuwägen, und schreite erhobenen Hauptes am Aufseher vorbei, der mich erst noch ehrerbietig grüsst, durchs Tor.
Thomas Schneider
1951 in Basel geboren. Hausarzt im Teilruhestand. Fünfeinhalb Monate Gefängnis wegen Militärdienstverweigerung, drei Jahre Studium der Germanistik, dann Medizinstudium und Stattsexamen, Tätigkeit in verschiedenen Spitälern (davon drei Jahre am Universitätsspital Basel) bis zum Facharztdiplom in Innerer Medizin, ein Jahr lang ärztlicher Delegationsleiter der IKRK-Mission in Uganda, drei Jahre Oberarzt in einer Reha-Klinik für Querschnittpatienten und Hirnverletzte, achtundzwanzig Jahre eigene Hausarztpraxis. Aktuell Hausarzt im Teilruhestand.-
Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Zeitungen von 1975 bis 1997, unter anderem in drehpunkt, spektrum und manuskripte (ein Mal, Nr. 116/92), in der Stuttgarter und Basler Zeitung, in Anthologien unter anderem in «Kutsch» Literatur aus der Schweiz, herausgegeben von Heinz F. Schafroth und Egon Ammann (1983). Radiosendungen, Einladung an Solothurner Literaturtage, Förderbeitrag des Kantons Basel-Stadt 1984 mit Unterstützung einer Publikation («Geh mit dem Eichhörnchen»). Berufs- und familiär bedingt längere Schreibpause. Aktuelle Veröffentlichungen in «orte» (3/21), «Landstrich» (Ausgabe 2022), «Der Schreiberling» Nr. 2 (Herbst 2023) und «DAS GEDICHT» Nr. 31 (Jahresende 2023). Letzte Publikation in KKL Nr. 38, 13.3.2024.
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